14. Oktober 2004

Tat twam asi

 

Sicher, man war nervös: Wie würde er aussehen? Wie in der Hand liegen? Würde er überhaupt ausliegen? Dann gleich die Erleichterung, direkt gegenüber der Kasse, mindestens zwanzig Hefte als Stapel, ein Blick aufs Cover – und die Sache war kippenbergerisiert. So sah also der Freund aus: halbnackt (eigentlich ganz nackt, aber nach der oberen Hälfte abgeschnitten), sehr entspannt in der Haltung, dabei grimmig, ein bisschen böse (die Narbe über dem linken Mundwinkel), aber entschlossen, nicht einzugreifen, ein Lebensbaum auf dem Oberkörper (oder auch: die Haarpracht als Atomexplosion), ein Tattoo als Reminiszenz an den rasenden Reporter. So möchte man gerne das Weltgeschehen betrachten. Irgendwie ist schon alles gesagt, man kann sich anderem zuwenden. Und das macht der Freund ausgiebig.

 

Der europäische Weg nach Katmandu, Nepal, führt über Absurdistan. S. 46/47, D2 (Alexander-Weltatlas, 197X), der nepalesische Block liegt direkt „unter“ dem Himalaya, der Mount Everest quasi ein Katzensprung. Von hier sehen manche Dinge anders aus. So sagt Lorenz Schröter in seinem programmatisch lesbaren Eingangstext mit dem schönen Titel: „In der Mitte? Ach, in der Mitte ist nichts“ Folgendes: „Wir leben nicht außen auf der Erdkugel, sondern drinnen, auf der Innenfläche einer Hohlkugel.“ Nicht anders, nur nicht so unterhaltsam, sagt es ja auch die Gehirnforschung. Aber man sollte sich von der Schröder’schen Nettigkeit nicht allzu leicht blenden lassen, denn wer wirklich alle neun Seiten dieser insgesamt erfreulich ausführlichen, bilder- und fotofreien eben nicht Bleiwüsten-Texte (Spitzenwert: 21 Seiten) liest, ahnt, dass es hier um viel, wenn nicht alles geht: So wird zum Beispiel die Beschimpfung, man sei nicht ganz dicht, beim Wort genommen, wobei bei der semantischen Umkehrung gewissermaßen der eigentliche Sinn dieser Phrase herausfällt: Erst wenn wir wieder so werden wie die Kinder, nämlich mit einem Loch im Kopf, haben wir die Chance, aus unserem beengten Schicksal von Hochdrucksolipsisten auszuscheren.

 

So (ja auch nur scheinbar) einfach mit Erfolgsrezepten macht es sich der niederländische Stararchitekt Rem Koolhaas in seinem 16-seitigen Bandwurmtext nicht. Zugegeben: Man weiß ja erst mal gar nicht, über was der Mann da eigentlich spricht. Im Titel steht „Junkspace“, und erst mal bangt man, dass der Autor von seinem eigenen Thema eingeholt wird. So was wie Spitzentrash. Aber als Hochplateau, wirklich von S. 17 bis S. 33 durchgehalten. Natürlich stellen sich Assoziationen ein, irgendwas muss irgendwann schief gelaufen sein (nicht nur in der Architektur), verpasste Chancen, jetzt nur noch globalisierter Schrott, Adorno, Post-Postmoderne, es scheinen immer die kleinsten Unterschiede zu sein, die das Ganze zum Kippen bringen („Junk Space verdammt das Urbane zur Urbanität… statt öffentlichem Leben, öffentlicher Raum: das einst Unvorhersehbare der Stadt wurde entfernt…“). Jedenfalls ist Rem Koolhaas über Nacht zu meinem Lieblingsautor geworden.

 

Dabei macht es einem Der Freund bei der Wahl wirklich nicht leicht. Jeder Text hat seine eigene unverwechselbare Abseitigkeit (wenige Ausnahmen), natürlich ist Russland, vertreten durch Vladimir Sorokin, nicht zu schlagen im instinktsicheren Ziehen der Arschkarte. Zeitlogisch korrekt findet der serienverwöhnte Leser auch auf Fortsetzung angelegte Rubriken, zum Beispiel: „Meine Werkzeuge“ (kompromissloser Text von Rafael Horzon), „Männer bei der Arbeit“ (natürlich in the air) oder „Autor-Scooter“ (hier verlieren allerdings die Russen mal, dank einer beherzten Initiative von Benjamin von Stuckrad-Barre). Auf manche Titel von Beiträgen kann man richtig neidisch sein, so auf Nicolaus Sombarts „Das Furnier des Ruminanten“. Mit jeder Seite wächst so das Zutrauen zu diesem Freund, den man immer bei sich tragen, den einem niemand wegnehmen kann, auch wenn man ihn mit 70.000 anderen teilen muss, aber was ist das schon gegen den Rest der (Zeitschriften-)Welt. Es lohnt sich also, sich um diese Freundschaft zu bemühen.

 

Dieter Wenk (10.04)