12. Oktober 2004

Wirbelnde Triebabfuhren

 

Ein Schmetterling schlägt in China mit den Flügeln, und am nächsten Tag gibt es in Oklahoma in den Vereinigten Staaten einen Tornado, so die allseits schon oft zitierte Erkenntnis der Chaostheorie. Damit der neue Kriminalroman "Sturmfieber" der amerikanischen Schriftstellerin Alice Blanchard, den uns nun das erste Sturmtief im Herbst auf den Buchmarkt fegt, funktioniert, müssen die Falter sich ganz schön ins Zeug legen. Denn in kürzester Zeit folgt ein Tornado auf den anderen. Zur Freude unzähliger "Sturmjäger", die mit klapprigen alten Autos dem Unwetter hinterjagen, um möglichst nah am Zentrum des Wirbelsturms ihren entscheidenden Kick und vielleicht auch ihre Erlösung zu finden.

 

 

Zu tun bekommen sie es aber mit Monstrosität. Der Sturm als Monstrum, als Ungeheuer, wobei sich diesmal in jedem Sturm ein Ungeheuer befindet, nämlich ein grausamer Serienmörder. Dass sich der anständige Bürger besonders gut und heftig gruselt, wenn es um Naturkatastrophen geht, weiß man von Filmen wie "The Day After Tomorrow". Dass man im Auge eines solchen Sturms aber auch stets jemanden antrifft, der sich als justiziabler Erdenbürger entlarvt, ist eine sehr amerikanische Lösung für Schicksalhaftes und allgemeines "Höhere-Mächte-befehlen".

 

 

Man wagt den Sprung vom Physikalischen zum Menschlichen und illustriert einander trefflich. "Breathtaker" lautet der Titel des Romans treffenderweise im Original und er beschreibt die Situation, in der sich zwei Männer mitten im Tornadogebiet der USA, in Oklahoma, umeinander drehen wie zwei Windhosen. Atemlos sind sie vor lauter Aggression.

 

 

Der eine Mörder, der andere, wie sollte es anders sein, Polizeichef. Beide litten in der Kindheit unter ihren grausamen Vätern. Doch um zu erklären, warum der eine auf der "guten", der andere auf der "bösen" Seite landet, dafür hat sich die Chaostheorie wohl doch noch zu wenig in der Psychologie etabliert. Atemlos wie die Hauptfiguren sind auch die zahlreichen Opfer. Entseelt und geschändet bleiben die Leichen liegen, nachdem so ein Sturm "wie ein gigantischer Schnitter" durchzog. Rausgerissen aus dem Leben wie die Zähne, die man findet, nachdem man lange gar nicht an Morde, sondern eben nur an diesen erbarmungslosen Sturm gedacht hatte, der eine solche Verwüstung hinterlässt.

 

 

Der Sturm vollbringt wohl Wunderliches, wie glasierte Torten vom Küchentisch heben und auf Motorhauben absetzen, ohne dass auch nur der Guss abbröckelt. Aber Zähne ziehen und wieder einsetzen? Eine eher dentallaborantische Vorstellung von einer gelungenen Monstrosität. "Je besser organisiert ein Unwetter ist, desto schwerer wird es wahrscheinlich werden." Man muss der Chaostheorie eben einfach ihren Tribut zollen. Diese Kausalketten zwischen irgendwelchen dubiosen Schmetterlingen und Wirbelwinden sind schließlich genauso undurchschaubar komplex wie das Verhältnis von Lebensläufen zu Ausbildungs- und Berufswahlen. Nur dass ein Arbeitnehmer anders als ein Sturm, dessen Aufgabe ja nur ist, zu stürmen, Zeit hat für eine Triebabfuhr, die sich "Sturmjagd" nennt.

 

 

Man bringt sich in gefährliche Nähe einer solchen himmlischen Plage, um dort schreiend und zitternd gegen die Übermacht anzustehen. Schreien und zittern vor Ärger kann man dann als Leser, wenn gewisse stilistische Entscheidungen von Alice Blanchard einfach zu plakativ werden.

 

 

Andererseits wirbelt es den Kriminalliebhaber doch so gründlich durch alle Lösungsansätze, dass man zu hoch gestochener Überschau keine Zeit findet. Ein Tipp zum Abschluss also: Man sollte die Abende nach der Lektüre besser mit einem Meteorologen verbringen.

 

Gustav Mechlenburg

 

 

taz Magazin Nr. 7483 vom 9.10.2004, Seite VI, 107 Zeilen (Kommentar)

 

 

Alice Blanchard: "Sturmfieber". Aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2004, 400 Seiten, 21,90 Euro

 

amazon