10. Oktober 2004

Kalter Ekel

 

Die ganze adornitische Vermessenheit kommt in dem Diktum zum Ausdruck, nach dem es bereits eine Unverschämtheit sei, wenn manche Leute „ich“ sagen würden. „Ich lese Adorno.“ „Ich finde Horkheimer letztlich sympathischer als Adorno.“ Gegen Shifter gibt es eigentlich gar nichts zu sagen. Das lernt man ja immer wieder in der Literatur. Abgesehen davon, dass man den dortigen Ichen fast nie begegnet, um mit ihnen möglicherweise eine ganz andere Erfahrung zu machen als der Autor, stößt man gelegentlich auf Texte, die auch intern keinen Rückschluss auf eine mehr oder weniger fixe Identität erlauben.

 

Zu diesen gehört auch dieser 1970-1972 geschriebene Roman, mit dem Tony Duvert 1973 den Prix Medicis erhielt. Interpunktionslos (wie das ebenfalls 1973 veröffentlichte „H“ von Philippe Sollers), mit Lücken in der Linie, Abbruch von Sätzen und Wörtern, und dennoch lesbar wie ein „normaler“ Roman. Es gibt ein paar Namen, die auf elf bis zwölfjährige Jungen gemünzt sind, aber die Namen, genauso wenig wie das sich durchziehende ich als Shifter, individualisieren bestimmte Personen. Es scheint eher um einen diffusen Raum zu gehen, in dem jeder jede Rolle übernehmen kann und wo Fragen wie Schuld oder Opfer keine Rolle spielen. Insofern, und auch aufgrund der repetitiv gestalteten Thematik, die auf jeder Seite die Norm verletzt, ist der Titel des Buchs ernst zu nehmen: Fantasielandschaft. Fantasie, Traum, Alptraum, sadomasochistischer Exzess auf homosexuellem Terrain.

 

Die Ereignislandschaft ist die eines Marquis de Sade, reduziert auf die männliche Sexualkomponente (Frauen tauchen nur als verwesende Kadaver und als travestisches Objekt auf), also gewissermaßen jean-genetisiert, formalisiert als Nouveau-nouveau-Roman. Wie krass, ekelhaft, zum Himmel stinkend, widerlich, haarsträubend, gewalttätig, nekrophil auch immer die Darstellungen der zirka 25 Sequenzen sind, die seit Flaubert die französische Literatur durchziehende „impassibilité“, Leidenschaftslosigkeit, Distanziertheit wird hier an keiner Stelle aufgegeben. Alles geschieht mit der größten Selbstverständlichkeit. Beklemmung wie etwa in Pasolinis de-Sade-Verfilmung der „120 Tage von Sodom“ kommt nicht auf. Wenn man das Buch zufällig aufschlägt und liest (was man tatsächlich machen kann, der Leser ist an jeder Stelle gleich weit entfernt von Zentrum und Peripherie oder gleich nah), könnte man glauben, man hätte es mit einem Porno zu tun. Mag sein, aber er ist absolut kalt. Und was fangen die meisten Leser und vor allem Leserinnen mit kleinen Jungen an, die noch über keine „jute“ verfügen, aber doch schon „plaisir“ empfinden.

 

Man kann und soll sich also nicht einfühlen in diese Welt, die irgendwo auf dem Land spielt, ein Schloss ist auch nicht weit, ein Waisenhaus mit Jungen steht älteren Herrn zur Verfügung, die Jungens quälen sich gegenseitig, dann wieder Naturbeschreibungen, wie um sich als Leser von den Exzessen erholen zu können. Nummernrevue, literarisch ambitioniert, kalt eingeschenkt. Bei manchen Szenen denkt man unweigerlich an weitere Filme, so an „Seven“ von David Fincher, die Ritualmorde, aber Duvert bleibt im cool abjectism. Für die damalige Jury war das einen Preis wert. Unverschämt ist das Buch jedenfalls nicht. Eine Delikatesse aber auch nicht.

 

Dieter Wenk (10.04)

 

Tony Duvert, Paysage de fantaisie. Roman, Paris 1973 (Les éditions de minuit)