3. Oktober 2004

Großes Palaver

 

Das Buch ist nun zur Hälfte gelesen und diese Rezension also in höchstem Maße unseriös. Man kann aber auch schon allerhand sagen, wenn man nicht „ausliest“, wie man wohl Gerechtigkeit beim Lesen nennt.

Striche man die Hälfte der unzähligen Wiederholungen weg, hätte „Jahreswechsel“ genau die Anzahl Seiten, die ich bereits las. Ein guter Einfall, auch wenn es sich jetzt so anhört, als wollte ich das Buch doch heimlich ganz gelesen haben. Darum geht es nicht. Es sind wohl schon bessere, berühmtere und schwierigere Bücher von Lesern abgebrochen worden. Dieses bricht man ab, weil man vom „großen Palaver“ des Hanskreuf nach kürzester Zeit in eine benommene Abwesenheit gesprächt wird, wie jeder es sehr gut aus täglichen Zusammenkünften kennt, die man bereits im Voraus choreographieren kann und deren Inhalt nur akustischen Reiz hat, keinen kommunikativen.

Hanskreuf ist zum Jahreswechsel von seiner Herzdame verlassen worden. Die hat schon einen anderen. Hanskreuf hat vor lauter Verwirrung und Gekränktheit nun lauter andere Frauen, man kennt das. Es wird sich aber nichts zuspitzen. Das kennt man auch.

Die von Thomas Bernhard entlehnte Technik der Wiederholung, lässt mit ziemlicher Sicherheit auf eine gleichmäßig mit Dünkel gefirnisste Romanstrecke schließen. Leider fehlt der sich in wortfeldentgrenzende Wut steigernde Ton, sodass man zwar einige hübsche neue Worte im Ohr klingen hat, aber es ist nur so ein Geklingel, kein zwingendes und unabweisbar dringendes Sprechen. Wiederholung schützt vor nachlässigem Vokabelschatz aber nicht vor, auch in der Repetition mit Recht immer Neues erwartenden Lesern. Bitte nicht wieder so ein Beziehungskack, den man mit sich selbst in der Badewanne beim Herumflutschen mit der Seife veranstalten kann.

Die Mädchen haben Topfpflanzen, was für welche? Wenn Hanskreuf ihren Namen nicht weiß, soll er ihn nachschlagen oder wenigstens die Blätter näher beschreiben. Er bekommt einen Faustschlag vom neuen Liebhaber seiner Braut. Wie sieht der aus, nicht der Faustschlag, der Mann dazu? Wo wohnt Hanskreuf? In Hamburg. Er hat eine Wolldecke. Wie sieht sie aus? Alpaka, Schaf, Kamelhaar, welche Farbe? Vielleicht sogar Muster? Hanskreuf ist ein unsäglich unaufmerksamer Erzähler, Kelling weiß bestimmt mehr, aber er sagt nichts.

Es entsteht der Eindruck, als habe sich Gerhard Kelling beim Schreiben dieses Romans ein bisschen zu sehr in seine monomanische Hauptfigur Hanskreuf verwandelt, aus lauter gewissenhaftem Einfühlungsvermögen natürlich und leider zum Nachteil des Lesers.

 

Nora Sdun

 

Gerhard Kelling, Jahreswechsel, Suhrkamp 2004

 

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