1. Oktober 2004

Zu viel des Netten

 

Warum ist dieser Band so ermüdend? Liegt es an der Marginalität des Erzählten? An der Harmlosigkeit des Erzählers? Bei Robert Walsers Prosa etwa gibt es immer etwas, an was sie sich selbst bricht. Jedenfalls fällt der Leser in mindestens ein Loch, aus dem er sich selber herausziehen muss. Nichts oder nur sehr wenig davon in diesen Prosatexten Polgars aus den Jahren 1907 bis 1929. Manchmal denkt man, dass Polgar von der Idee besessen ist, aber auch wirklich jedem Ort ein literarisches Denkmal zu setzen. Darüber geht dann ein poetisch-ironischer Hauch, der aber gewissermaßen schon etwas Mundgeruch angesetzt hat. Der Staub des literarischen Schreibens ist das Hauptgewicht dieses Buchs. Man kann nicht umhin anzunehmen, dass das Angeschmockte selbst ein bewusst eingesetztes Treibmittel dieser Prosa war. Peter-Altenberg-Nostalgie. Aber Peter Altenberg ist halt besser. Klar und ganz transparent. Dabei verzaubernd. Kurzkino durch Literatur. Bei Polgar liest man immer mit: Hier schreibt jemand gerade ein Feuilleton für die Sonntagsbeilage in der Hoffnung, auch der schon etwas weiter fortgeschrittenen Generation etwas Freude zu bereiten.

 

Gerade die letzten Sätze sind es, die unverzeihlich sind, insofern ist der Titel dieses Bandes – Kreislauf – einigermaßen fatal, denn geschlossen wird auf Teufel komm raus; Polgar, oder die Garantie des finalen Merksätzchens. Manchmal auch bedauert man, dass Polgar so klug ist. Es lohnt nicht. Der Aufwand in den meisten Fällen verschenkt. Etwas mehr Spleen hätte man sich gewünscht. Ein penibler Holzschnitzer – aber eben: Holz. Der etwa gleichaltrige Robert Musil hat in seinen kürzeren Texten viel mit Luft gearbeitet. Das ist immer riskant, hat aber den Vorteil, dass der Leser tief durchatmen kann. Er kann auch mal Sachen wegblasen. Bei Polgar ist der Leser in einem trüben Glibber gefangen. Abstellkammer. Vergilbtes Fotoalbum. Pastorales Memento mori („Wer war schuld“), Altenberg-Pastiche (wie gesagt, „Der abgeschiedene Freund“), Küss-die-Hand-Schmäh als Vater-Sohn-Konflikt („Sentimentales Gespräch“). Aber vielleicht kommt es ja mal vor, dass der eigene Kreislauf nicht so will wie er soll. Man ist abgeschieden vom Tagesgeschehen. Die Sicht eng begrenzt. Man wird sentimental und hat mal wieder Anlass, über den Wert der Gesundheit nachzudenken. Die meiste Zeit schläft man oder döst vor sich hin. Und dann kommt jemand, mit diesem Buch in der Hand, und fängt irgendwo an, daraus laut vorzulesen:

 

„Ich bewohne ein kleines, stilles Quartier. Ich weiß nicht, wer nebenan, wer über und unter mir haust. Ruhige Leute jedenfalls; denn außer der verworrenen Unruhe der Straße dringt kein Geräusch in die Wohnung, aus der die Einsamkeit nie weicht. Wie ein Tier liegt sie lauernd in der Ecke. Ich liebe die Einsamkeit, aber die Einsamkeit meines Zimmers liebe ich nicht. Weil ich ein tiefes Misstrauen gegen die Dinge in ihm, gegen Wände, Möbel, Bilder habe und mich ihnen ausgeliefert fühle. Es sind viele gegen einen. Ich spüre, dass sie mich anstarren und ahne Zeichen der Verständigung zwischen ihnen und pfeife sorglos, um ihnen zu zeigen, dass ich mich gar nicht fürchte…“

 

Dieter Wenk (09.04)

 

Alfred Polgar, Kreislauf. Kleine Schriften Band 2, Reinbek bei Hamburg 2004 (rororo), herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl