30. September 2004

Hyper ist ultra nach post

 

1983 erschien Gilles Lipovetskys (geb. 1944) erstes Buch über den zeitgenössischen Individualismus, „L’ère du vide“ („Narziss oder Die Leere“, Hamburg 1995), das den Übergang von der modernen zur postmodernen Gesellschaft zu beschreiben versucht. War das Zeitalter der Moderne, trotz aller befreienden Züge, gekennzeichnet durch Autorität und Disziplinierung – Zukunft verpflichtete –, so trat man mit der Postmoderne in die Zeit der individuellen Personalisierung ein: Das Projekt der Moderne wich dem Projekt der eigenen Zeit, das narzisstisch mehr und mehr um den eigenen Körper kreisen konnte, da nichts mehr aufgespart werden musste, das in eine mehr als problematische Zukunft zu investieren war. Das spielerische Moment der Postmoderne ist von vielen Diagnostikern als Charakteristikum genannt worden, und so kann man vielleicht sagen, dass die Postmoderne die erste Epoche darstellte, in der eine Gesellschaft sich selbst in ihren scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten austestete.

 

Was fügt die Hypermoderne der Postmoderne hinzu? „Les temps hypermodernes“ sind kein Traktat über die Globalisierung, das Wort (im Französischen „mondialisation“) kommt im Hauptessay nur ein einziges Mal vor. Es geht eher um das Aufzeigen einer neuen Stimmung im Westen, vor allem in Frankreich. Die Zukunft wird wieder entdeckt, allerdings vor allem als ängstigende. Dabei schlägt Lipovetsky eine arg abstrahierende Typologisierung des „hypermodernen Individuums“ vor: „überaktiv, so ist das hypermoderne Individuum ebenso vorausschauend, liebevoll und zwischenmenschlich; die Beschleunigung der Geschwindigkeiten hat weder das Mitgefühl für den anderen noch die Leidenschaften für Qualität noch das Streben nach einem „ausgeglichenen“ und gefühlvollen Leben abgeschafft.“ Das ist ein bisschen sehr allgemein, und was das mit Hypermodernität zu tun haben soll, ist mir auch nicht klar.

 

Ein Definitionsvorschlag: „Man muss sich die Hypermodernität vorstellen wie eine Metamodernität, unterstützt von einer Chronoreflexivität.“ Dieser Sound wird (leider?) nicht durchgehalten, Baudrillard kann das auch viel besser, auch wenn Baudrillards rhythmisierte Rhetorik nicht notwendigerweise in eine klare Vorstellung mündet. Was Metamodernität bedeutet, wird also nicht ausgeführt. Chronoreflexivität scheint ein bisschen zu tun zu haben mit Ulrich Becks zweiter Moderne und deren Autoreflexivität. Ansonsten bleibt „hypermodern“ schwach denotiert, es scheint kaum aus dem postmodernen Schatten herauszutreten.

 

Noch ein Beispiel für die äußerste Vagheit des Konzepts: „Die hypermoderne Kultur zeichnet sich durch das Schwächerwerden der regulativen Kraft der kollektiven Institutionen und die korrelative Autonomisierung der Akteure gegenüber den Auflagen der Gruppen aus, seien diese die Familie, die Religion, die politischen Parteien, die Klassenkulturen.“ Ziemlich genauso war das auch schon in dem Erstling zu lesen, auch hier ist die Diagnose bezüglich der zunehmenden Personalisierung ambivalent: zugleich mehr Freiheit und mehr Chaos. Je nach Temperament oder was? So tief gehen dann leider die Analysen nicht, dass sie die Charakteristiken auf einzelne Aktanten zuschreibbar machten.

Wenn man schon nicht wegkommt von der Moderne als Bezugspunkt, sollte man es vielleicht mal mit eine Intramoderne versuchen, denn wenn auch nichts bei rauskommt, so führen doch alle Wege nach innen.

 

Dieter Wenk (09.04)

 

Gilles Lipovetsky (avec Sébastien Charles), Les temps hypermodernes, Paris 2004 (Grasset)