29. September 2004

Naturleitsystem

 

Da Rousseau an keiner Stelle dieser Schrift definiert, was Natur sei, und das auch gar nicht kann, ohne in Widersprüche zu verfallen, liegt es nahe, anzunehmen, er habe keine Bresche für die Natur schlagen als vielmehr seine Zeit anklagen wollen. Denn diese angebliche Erziehung nach der Natur ist ja ein einziger Krampf, ein ständiges geängstigtes Schauen nach dem Punkt, an dem Natur sich selbst überholt und aushebelt. Die Natur kommt in der Natur meist als ihre eigene Übertreibung vor. Sie ist ihr eigener Überschuss. Sie ist das, was eigentlich nicht hätte passieren dürfen, was aber notwendigerweise eintritt. Deshalb darf der arme Emil keine Vergleiche haben. Er wird aus allem abgezogen, aus der Stadt, aus der Gesellschaft, aus dem Umgang mit Frauen, bis er nur noch die Natur um sich hat und seinen Erzieher als Stellvertreter dieser Natur. Das Paradox ist: Die Natur braucht einen Erzieher.

 

Schon am Anfang des ersten Buches heißt es: „Wir wissen nicht, was uns die Natur zu sein erlaubt.“ Und der allererste Satz des Buches lautet: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ Man kann also mit dem Naturbegriff nicht sonderlich viel anfangen. Statt Natur hätte Rousseau überall Mäßigung als Terminus einsetzen können. Regulierung, Disziplinierung. Er schlägt im „Emil“ gewissermaßen der luxuriösen Zeit den wuchernden Kopf ab. Er selbst konnte und wollte in Paris nicht glänzen. Anders als seine Philosophenkollegen. Er hasste diese müßiggängerische Klasse, die Effeminierung, den Tand. Die Aussparung des Körpers. Er sah und hörte nichts als Diskurs. Alles schien ihm Ausfluss eingebildeter Bedürfnisse. Ein Schlüsselbegriff des Buchs: wahre und natürliche Bedürfnisse. Für deren Vermittlung ist der Erzieher als Dolmetsch zuständig. Der Zögling könnte sie nicht erkennen und von falschen unterscheiden. Und so heißt es, natürlich auch hier wieder paradox: Der Zögling darf alles wollen, nur soll er nur das wollen dürfen, von dem der Erzieher will, dass er will. Der Erzieher erkennt seinen Zögling besser als dieser sich selbst. Das natürliche Chaos muss geleitet werden. Vor allem: zurückgehalten werden. Alles funktioniert nach dem Prinzip der Auslagerung und des Aufschubs.

 

Aber was soll das, wenn die Versuchung sowieso kommt? Irgendwann fangen die Vergleiche an, wird bezogen – aber dann soll Emil ja schon ein perfekter Stoiker sein. Rousseau vertritt im „Emil“ ein sehr klassisches Erziehungsideal: Abstumpfung der Affekte, Ignoranz über die Leidenschaften (frei nach dem Motto, dass man sich Robinson Crusoe als glücklichen Menschen vorzustellen habe – weil er allein ist), Einsseins mit dem Körper im Moment des Herumtollens im Wald und auf der Heide. Leider springt halt dauernd noch der Erzieher mit. Immer. Ständig. Er ist immer dabei. Schläft im selben Zimmer wie Emil. Die ersten zwanzig Jahre. (Ich bin immer für dich da.  – Danke, aber ich mag Sie nicht.) Das Wort „natürlich“ wird einem nicht mehr über die Lippen kommen, wenn man dieses Buch gelesen hat. Es ist grammatologisch unmöglich.

 

Dieter Wenk (09.04)

 

J.-J. Rousseau, Emil oder Über die Erziehung Paderborn 1983 (Schöningh)