25. August 2004

Kulturelles Potenzial

 

Dass Copyright-Ansprüche letztlich nicht haltbar sind, lässt sich vor allem an kulturellen Produktionen zeigen. Ein neuer Sound, eine Geschichte, eine theoretische Erkenntnis sind immer das Ergebnis von Kommunikation. Sie werden nicht von Genies erschaffen, sondern entstehen aus gesellschaftlichen Kontexten (Sie liegen in der Luft) und werden dann von Einzelnen, mehr oder weniger gekonnt, präsentiert. Selten jedoch ist ein Copyright-Text im Vorspann eines Buchs – „kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ... reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden“ – so absurd wie bei Thomas Meineckes „Musik“.

 

Der 1955 in Hamburg geborene, jetzt wahlbayrische Musiker (FSK) und DJ veröffentlicht seit Mitte der 1990er Jahre Bücher, die sich wie literarische Projektionen von Sampling-Techniken lesen. In „The Church of John F. Kennedy“ (1996) und „Tomboy“ (1998) versuchte Meinecke dabei noch, seinen aus Zitaten, Musik- und Diskussionsfragmenten zusammengeschnittenen Texten einen narrativen Rahmen zu geben. Imperfekt und allwissender Erzähler sorgten für eine bisweilen ziemlich hölzerne Atmosphäre, die wirkte, als habe der Autor seinen Text durch Zugeständnisse an Erzählkonventionen als „Literatur“ kenntlich machen müssen.

 

In „Hellblau“ (2001) und nun „Musik“ (2004) hat Meinecke auf solche Kompromisse verzichtet und seine Methode radikalisiert. Er verschwendet keine Energie mehr auf jene Elemente, die im gängigen Leseverständnis einen Roman auszeichnen: Entfaltung eines Erzählstrangs und Charakterisierung der Hauptpersonen in Handlungssituationen. Stattdessen gilt sein Interesse drei oder vier inhaltlichen Fragen, die er in immer wieder neuen Zusammenhängen aufwirft. Wenn man so will, ist in diesen Texten „jeder Teil des Werks in irgendeiner Weise reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet und vervielfältigt“. Der Verweis zur elektronischen Musik liegt nahe: Die Zusammensetzung von Zitaten kreiert neue Werke, die in ihrer Reproduziertheit von der Aura des Genialischen befreit sind.

 

„Hellblau“ und „Musik“ werden vom Verlag zwar unter dem Label „Roman“ vermarktet, doch letztlich hat Meinecke etwas viel Interessanteres entwickelt: Er hat eine Form gesampelt. Einen Prosa-Text, der gleichermaßen als assoziativer Mix, fragmentierter Essay und kulturwissenschaftliche Erzählung daherkommt. Die inhaltliche Klammer bildete in „Hellblau“ die Frage nach der sozialen Konstruktion von Hautfarbe und Geschlecht und dem Aufbegehren im Techno: Wie wird jemand weiß, schwarz, jüdisch...? Wie findet geschlechtliche Codierung einer Geste, eines Kleidungsstücks, eines Tanzes statt? Welche Musik bricht solche und andere Zuschreibungen? Und: Welche Rolle spielt Techno dabei?

 

In „Musik“ knüpft Meinecke an diese Fragen an, bestimmt die Rahmenhandlung jedoch neu. Zwei Geschwister – Kandis und Karol; sie Schriftstellerin, er Steward – erzählen in der Ich-Perspektive von Gedanken und Empfindungen beim Lesen, Diskutieren und Musikhören. Kandis arbeitet an einem literarischen Text, Karol – zwischen den Flügen – an einer Untersuchung. Das Thema ihrer beiden Arbeiten überschneidet sich dabei. Es geht erneut, jedoch klarer fokussiert als in „Hellblau“, um die Entstehung von Gender. Kandis ist eine eher hetorosexuelle, maskuline Frau, Karol ein eher heterosexueller, femininer Mann. Und damit eröffnet sich ein im Verlauf des Buchs immer breiter werdendes Assoziationsfeld zu Begriffen wie „feminin“, „effiminiert“, „homosexuell“, „camp“...

 

Naheliegenderweise stellt Meinecke die Fragen vor allem im Zusammenhang mit Musik; das heißt genauer gesagt mit Jazz, Funk, Soul & Disco. Meinecke untersucht, was diese Sounds transportieren, wie sie gesellschaftliche Prozesse auslösen oder reflektieren. Wie zum Beispiel Rock eine Männlichkeit zu rekonstruieren versuchte, die Disco zersetzt hatte. Und daran anknüpfend, wie Mode – die fast immer mit Musik einhergeht – geschlechtliche Codierungen produzieren oder auf widersprüchliche Weise auch umdeuten kann.

 

Was das alles mit Pop zu tun hat? Wahrscheinlich viel weniger, als es auf den ersten Blick scheint. Der Verlag zitiert zwar jenen eigentümlichen Titel, den eine Frauen-Style-Zeitschrift Meinecke vor einigen Jahren verlieh: „Pop-Philosoph“. Doch die Beschreibung ist irreführend. Der Schriftsteller-Musiker-DJ Meinecke kokettiert nicht mit Sprache und Codes von Jugend- und Musikkulturen, wie sie für das popliterarische Schreiben der letzten Jahre kennzeichnend war. Meineckes Stil ist vielmehr geschliffen, um Exaktheit bemüht, auf angenehme Weise fast schon germanistisch. Gleichzeitig erzeugt er in seiner Direktheit jene Spannung, die der Erzählbogen nicht liefert. Die Entwicklung der „Story“ stellt bei Meinecke keinen zwingenden Grund dar weiterzulesen. Doch der flächige Klang, der „Hellblau“ ausmachte und jetzt auch in „Musik“ wieder angestimmt wird, weckt immer wieder von neuem die Neugier am Text. Keine aufgeblasene Effekthascherei – Meinecke setzt allein auf einen auf den Augenblick zugeschnittenen Sound, der zwei Erkenntnissen zu folgen scheint: erstens, dass die Grenze zwischen wissenschaftlichem Text und Literatur fließend ist, also jeder Text auch eine Erzählung und umgekehrt, und zweitens, dass es für das Verständnis von Texten deshalb wesentlich ist, dass die Subjektivität der Sprechenden kenntlich gemacht wird.

 

So gesehen ist „Musik“ wie schon „Hellblau“ viel eher ein kulturwissenschaftlicher, denn ein popliterarischer Text. Einer, der die Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur aufzuheben versteht, ohne in einen antiintellektuellen Gestus oder modische Flachheit zu verfallen. Nietzsche steht hier problemlos neben Prince, der Filmemacher Max Ophüls neben Louis Armstrong und Ludwig II., Judith Butler neben Claudia Schiffer und Arnold Schwarzenegger.

 

Das ist interessant und schlüssig. Mein einziger Einwand gegen „Musik“ wäre die Frage, ob Meinecke (bzw. seine ProtagonistInnen) das emanzipatorische, nach vorn weisende Potenzial von kulturellen und musikalischen Entwicklungen nicht gewaltig überschätzt. Wie bei Judith Butler scheint auch bei Meinecke Emanzipation vor allem eine Angelegenheit des Sprechens und Umdeutens von Gesten und Codierungen zu sein. Die handfesten Zwänge, die mit dem Sprechen einher- oder diesem vorweggehen, bleiben ausgeblendet. Folgerichtig verliert Meinecke denn auch kein Wort über die Arbeitsverhältnisse seines Protagonisten Karol, jenes glücklichen postfordistischen Subjekts: In seinem elenden Scheißjob – ständig wechselnder Tagesrhythmus, ausgetrocknete Kabinenluft, nölende Geschäftsreisende – diskutiert der, natürlich gut aussehende, Steward fröhlich über Musik, Mode, Liebe und Theorie, als gebe es keine Abgestumpftheit durch den Arbeitsalltag. Gesellschaftliche Ordnung ist, möchte man da einwenden, eben nicht nur das Ergebnis zwanghaften Verhaltens, sondern auch eines Zwangsverhältnisses, das weit mehr als nur kulturell konstruiert wird.

 

Raul Zelik

 

Thomas Meinecke: Musik, Suhrkamp 2004

Thomas Meinecke: Hellblau, Suhrkamp 2001

 

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