20. August 2004

Lebensfestlichkeit

 

Szenen einer schönen Welt. 50 Jahre Thomas Manns Felix Krull

 

Buddenbrookhaus, Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum, Mengstraße 4, Lübeck. 7. August bis 31. Oktober, täglich von 10 – 18 Uhr (ab November im Münchner Literaturhaus)

 

Der Held eines Schelmenromans ist nicht der geschlossenen Struktur eines Entwicklungsromans verpflichtet. Der Abenteurer treibt sich in der Fülle von Schauplätzen und Episoden herum. So ein Text lässt sich unendlich weiter spinnen. Von allen Seiten werden gesellschaftliche Eigentümlichkeiten beleuchtet, und von unten kommt der Schelm und bricht sich durch die Krusten der Konventionen zu immer neuen Erlebnissen bis in den Hochadel durch.

 

Ein solch unabschließbares Genre neigt zum Fragmentarischen. So erging es auch Thomas Manns unvollendetem Roman „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, dessen 50-jährigem Erscheinungsjubiläum zur Zeit eine Ausstellung im Buddenbrookhaus in Lübeck gewidmet ist.

 

Ab 1910 datiert die von Thomas Mann angestaute Zettelwirtschaft zu seinem „Felix Krull“. Das Arbeitszimmer mit Schreibtisch ist aufgebaut und Dossiers zu „Weiblichkeit“, „Sport“, „Hotelbetrieb“ und „Interieurs“, ausgeschnitten aus Tageszeitungen und Werbebroschüren, liegen in Mappen bereit und geben einen Einblick, wie der Autor gearbeitet hat und wie der von ihm angestrebte zweite Teil des Romans hätte werden sollen. Ein halbes Jahrhundert dokumentiert diese vom Autor angelegte Materialsammlung, die wie der Roman selbst eine Lebensfestlichkeit verströmt, die ohne jedes Unrechstbewußtsein eklektisch und humoristisch-kriminell einen Teil luxuriös halbweltlicher Gründerzeit versammelt. Szenen einer schönen Welt.

 

Der Künstler als Hochstapler. Das Kunstwerk als Leben. Dass eine Linie führt von dem Narziß zu Felix Krull bis zu Thomas Mann ist nicht verwunderlich. Beim Betrachten der Ausstellung geraten die Bezüge einmal mehr durcheinander. Aus dem tragisch-mystischen und isolierten Schriftsteller pellt sich ein allsympathisches Goldkind, dessen Energien immer der Selbstverwirklichung dienen, ohne andere bewusst schädigen zu wollen. Die Selbsterhöhung gelingt immer, und Felix Krull trägt die versteckte Autobiographie des Autors mit sich, allein schon, weil Thomas Mann sein ganzes Leben an diesem, seinem letzten, Roman gearbeitet hat.

 

Am Ende mischen sich für den Betrachter die gefälschten Unterschriften, die Thomas Mann auf Schmierzetteln für die Figur des Vater Krull ausprobierte, mit den tatsächlich geraubten Armbanduhren einer ungarischen Aristokratin. Phantasiegewänder rascheln durch die Foyers und livrierte Boys springen von der Fiktion in die Realität einer dekadenten Atmosphäre des Wohllebens. Samt Barfußtänzerin, Liselotte Pulver und Five o Clock Tea.

 

Im Falle des Lebens-Kunstwerks, wie Narzißten und Hochstapler es pflegen, ist die Faustregel, Leben schlägt Kunst unbrauchbar. Der Hochstapler personifiziert die Kehrseite des Narziß, der sich an dem, was er machen kann, nicht messen lassen will, aus Angst vor Ernüchterung und Banalität und deshalb lieber nichts macht. Felix Krull macht es.

 

Gustav Mechlenburg

 

Vgl. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 8.8. 2004