19. August 2004

Blechutopie

 

Sollte einem noch mal jemand begegnen, der davon schwafelt, raus aufs Land ziehen zu wollen. Man gebe ihm dieses Buch und hoffe auf Besserung.

„Ich ging in die Wälder, denn ich wollte bewusst leben. Intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen. Um alles in die Flucht zu schlagen, was nicht Leben war, damit ich nicht in der Todesstunde innewürde, dass ich gar nicht gelebt hatte. Das Leben ist so kostbar.“ So steht es bei Henry David Thoreau, dem prototypischen Aussteiger, bekannt durch sein Buch „Walden – Hüttenleben im Walde“ (1854), in dem er das Experiment eines einfachen, naturnahen Lebens abseits gesellschaftlicher Zwänge und ökonomischer Entfremdung beschreibt.

Ähnlich beginnt auch Magnus Mills’ neuer Roman „Zum König!“. Nur dass man hier nicht im Wald, sondern auf einer unwirtlichen, windumtosten Hochebene lebt und nicht in Block-, sondern in Blechhütten haust. Einsiedler, Sonderlinge, Eigenbrötler sind es allesamt, mit Hang zum Pioniergehabe. Ihre Ideologie beschränkt sich zunächst auf die „subtilen Vorzüge“, die es hat, weit ab und Meilen entfernt vom nächsten Nachbarn in einem Haus, ganz und gar aus Blech, zu leben. Das wahre Glück besteht für den Ich-Erzähler denn auch im Lauschen auf das Knarren des Wellblechs und im täglichen Sand-Kehren vor der Eingangstür. Um den Lebensunterhalt muss sich dagegen anscheinend keiner im Roman sorgen. Sie arbeiten nicht und doch steht wundersamerweise stets was zu Essen auf dem Tisch.

Doch dann kommt das Grauen. Zunächst in Gestalt einer Frau, die am Einsiedlerparadies ständig etwas auszusetzen hat. Dann Häufen sich aufdringliche Besuche eines Nachbarn, die den Erzähler irritieren. „Warum er sich dann aber entschlossen hatte, in so einer abgelegenen Gegend zu leben, konnte ich nicht verstehen, denn er schien seine Tage damit zu verbringen, die Gesellschaft anderer Leute zu suchen.“ Von dem Besucher wird er darüber hinaus auch noch belehrt, dass es in dieser Gegend Tradition wäre, Geschenke mitzubringen. Das ist dann doch zu viel des Guten. „Soweit ich wusste, sah man sich nur in monatlichen Abständen, weil alle unabhängig sein wollten. Bei dem Gedanken, als einer der Leute angesehen zu werden, die in Blechhäusern wohnten und sich gegenseitig Geschenke mitbrachten, fühlte ich mich ziemlich unwohl.“

Schließlich wird die schöne individualistische Utopie vollends pervertiert durch eine sektiererische Dynamik. Die Bewohner der Hochebene packen nach und nach ihre Blechhäuser zusammen und ziehen mit hunderten Neuankömmlingen zu einem charismatischen Guru, der eine Blechhüttenstadt erbauen lässt.

Magnus Mills hat mit „Zum König!“ eine einzigartig skurrile Antiutopie verfasst. Anders als in seinem letzten Roman „Indien kann warten“ ist der willenlose, meist fremdbestimmte Protagonist diesmal aber nicht der Dumme. Am Ende ist der sympathische, aber begriffsstutzige Langweiler der Einzige, der einen klaren Kopf bewahrt und alle wieder nach Hause schickt. Utopien sind eben doch nichts für jedermann - schon gar nicht, wenn man nicht gestört werden möchte.

 

Gustav Mechlenburg

 

Magnus Mills: Zum König!, Suhrkamp 2004

 

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