11. August 2004

Lied vom Tod

 

Dafür, dass die beiden Hauptpersonen in "Lullaby" massenmordend und mit Zaubersprüchen experimentierend durch die USA ziehen; dafür, dass Dutzende von Spukhäusern auftauchen und gegen Ende eine Kuh über die Vorzüge des vegetarischen Lebens doziert; dafür steht im Mittelpunkt dieses Romans ein erstaunlich reales Problem. Chuck Palahniuk, mit der Romanvorlage zum Film "Fight Club" bekannt geworden, hat ein Buch über die Lärm- und Informationsverschmutzung unserer Zeit geschrieben. Ein Buch über die "Phobiker der Stille", über Menschen, die sich in einem Raum ohne Lärmkulisse unwohl fühlen, die mit dem akustischen Fallout aus Radio und Fernsehen angrenzende Wohnungen kontaminieren.

In einer solchen Wohnung lebt Carl Streator. Zwischen den Nebengeräuschen der zu lauten Fernseher und permanent laufenden Radios seiner Nachbarn, geht Streator einer faszinierenden Frage nach: Welche Folgen hätte eine tödliche Seuche, die sich über die Ohren verbreitet? "Man stelle sich eine stille Welt vor, aus der jedes Geräusch verbannt wäre, das laut oder lang genug ist, ein tödliches Gedicht darin zu verbergen." Seine Überlegungen sind nicht hypothetisch. Während seiner Recherche zu einer Reihe plötzlich verstorbener Babys ist der Journalist auf ein tödliches Wiegenlied gestoßen. Es tötet jeden, dem es vorgelesen wird. Gemeinsam mit der Immobilienmaklerin Helen, die dem Geheimnis bereits vor Jahren auf die Spur gekommen ist und seither nebenberuflich als Auftragskillerin arbeitet, zieht Streator durch Amerika, die verbleibenden Exemplare des Gedichts zu vernichten.

Geeint durch Palahniuks lakonischen Zynismus ist "Lullaby" zur gleichen Zeit Road Novel und Thriller, ohne sich in den Spurrillen der Genreklischees zu verfangen. Erst der trockene Ton macht die Dutzenden von Toten erträglich, die während der rastlosen Bücher-Jagd durch Bibliotheken und Antiquariate Opfer des Wiegenlieds werden. Im Erzählton spiegelt sich die Beiläufigkeit der Morde. Fast unbewusst murmelt Streator das tödliche Gedicht in Richtung eines unschuldigen Radiomoderators oder eines pflichtbewussten Bibliothekars. Um sich von absoluter Macht korrumpieren zu lassen, so merkt Streator schnell, braucht es keinen Vorsatz.

Seine Erkenntnisse machen Streator nicht sympathischer. Er bleibt einer jener einsamen Anti-Helden, von denen Chuck Palahniuk bislang jeden seiner fünf Romane hat erzählen lassen. Ein Serienkiller wider Willen. Vom Tod seiner Familie so nachhaltig aus der Spur des Lebens geworfen, dass er zu einem ambitionslosen Verlierer wird. Als Journalist arbeitet er sogar mit in der "Rumpelkammer der Sprache", lässt seine eigne Stimme am "schwankenden Turm von Babel" wackeln.

Wie Multiball-Flipperkugeln schießen Palahniuks stakkatohaft rhythmisierte Sätze die verschiedenen Facetten des Weltuntergangs über die Seiten des Romans: Ökoinvasion, Medienmacht, Kontrollgesellschaft. Nahezu das komplette Feuerwerk des Kulturpandämoniums wird abgebrannt. Was "Lullaby" vor dem Ertrinken im Nihilismus rettet ist Palahniuks Sprachwitz. Der wird Thriller-Lesern nicht gefallen. Menschen, die mit der Ernsthaftigkeit von Stephen King & Co. nie etwas anfangen konnten, dafür umso mehr.

 

Gregor Kessler

 

Chuck Palahniuk, "Lullaby", Manhattan, 256 Seiten, 19,90 Euro

 

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