4. August 2004

Danke, Luhmann

 

Wozu-Fragen kannte man bisher vor allem von Antrittsvorlesungen und Erstsemesterveranstaltungen. Zur Zeit stellt auch das Feuilleton wieder die Frage nach dem Sinn der Geisteswissenschaften. Und die Antworten fallen weniger bildungsthematisch als ökonomisch aus. Die Soziologie hatte im Gegensatz zu "reinen" Schöngeistigkeiten immer den Vorteil der Empirie. Ihre Forschung ließ sich statistisch nachvollziehen oder instrumentalisieren. Das sieht bei der Systemtheorie freilich anders aus.

 

Wenn Dirk Baecker die Frage "Wozu Soziologie?" seiner neuen Aufsatzsammlung als Titel voranstellt, darf man von diesem eigenwilligen Schüler Luhmanns kaum eine Antwort erwarten, die seine Wissenschaft als Anwendungswissenschaft im obigen Sinne versteht, wohl aber als sinnvolle und notwendige Reflexion über Gesellschaft und Organisation und zwar als Rekombination soziologischer Mantel-und-Degen-Technik. Wissenschaftlich unaufgeregter Ton - skandalöse Entdeckungen.

 

Soziologie muss empirisch bleiben. Man zählt, doch leider rechnet man nicht. Jedenfalls ist es mit dem Elfenbeinturm Systemtheorie allein nicht getan. Und dass auch Niklas Luhmann in die Niederungen beispielsweise der Bürokratie hinabgestiegen ist, ist Baecker am Beispiel dessen Studie "Organisation und Entscheidung" redlich bemüht zu zeigen.

 

Entscheidung ist Willkür - immer. "Die Frage ist nur, wie die Gesellschaft der Organisation dabei helfen kann, ihre Willkür einzugestehen und mit dieser Willkür so umzugehen, dass sie gesellschaftlich mitgetragen werden kann." Keine andere Wissenschaft scheint dafür prädestinierter als die Soziologie. Auch wenn "die Zeiten, in denen Theorien dazu dienten, Verantwortung zu externalisieren [...], zumindest was die soziologische Systemtheorie betrifft, vorbei" sind.

 

Das war einmal anders, denkt man an die Bedeutung der Soziologie in der Studentenbewegung und an die Planungseuphorie der 60er Jahre. Soziologisches Wissen galt als Herrschaftswissen. Jedoch wurde es bald entschärft, "indem es zur Grundlage eines neuen Typs von gesellschaftlichem Handeln kam, nämlich eines reflexiven Handelns, das die Ordnung der Gesellschaft selber zum Thema hatte".

 

Heute können Handlungen und Kommunikationen nur noch in ihrer Beobachtbarkeit rückversichert werden. Und in dieser Hinsicht hat die Gesellschaft von der Soziologie bereits so viel gelernt, dass sie glaubt, ihrer gar nicht mehr zu bedürfen. So wie sich der Soziologe die Gesellschaft anschaut, ist Gesellschaft umgekehrt in der Lage, sich den Soziologen anzuschauen.

 

Je mehr die moderne Gesellschaft aber die Erfahrung der eigenen Konstruiertheit macht, desto notwendiger sind gleichfalls Techniken, die es erlauben, die Konstruktion der Gesellschaft zu überprüfen. "Eine dieser Techniken ,überwacht', um es etwas pathetisch zu sagen, die Grenze zwischen Kommunikation und Bewusstsein. Unterhaltung überspielt die Differenz zwischen Kommunikation und Bewusstsein. Kunst macht sie zum Ereignis." In Gedichten, Bildern, Liedern, Gesten werden Bewusstseinseindrücke erkennbar, die nicht kommunizierbar sind. "Kunst ist auf kommunikative Unzugänglichkeit der Wahrnehmung spezialisierte Kommunikation." Allein für solche Formulierungen sei der Soziologie schon lebenslange Daseinsberechtigung zugestanden.

 

Neben seinen altbekannten Themen wie System, Kunst, Geld, Wert und neueren Ausflügen zu moderner elektronischer Musik sind es vor allem zwei Punkte, die in Baeckers Denken eine neue Richtung zeigen: Mathematik und Computer. Mit Hilfe der Mathematik möchte er eine "Naturwissenschaft der Kommunikation" begründen, denn "die Kybernetik und die Soziologie haben ihre Rechnung miteinander noch nicht beglichen."

 

Und kein Phänomen stellt die Soziologie und Gesellschaftstheorie auf eine härtere Probe als der Computer. "Bisher galt, dass jede Information nicht nur als solche überprüft, sondern mit dem Umstand ihrer Mitteilung abgeglichen werden konnte. Der Computer jedoch ist für die Wahrnehmung unsichtbar und für die Kommunikation unverständlich und funktioniert doch. In dieser Hinsicht gleicht er der Welt insgesamt."

 

Vermag Baecker zwar das Besondere, was mit dem Computer in Erscheinung getreten sein soll, nicht wirklich einsichtig zu machen, die Absicht seiner Rhetorik ist klar, denn die wahre Antwort auf die Titelfrage "Wozu Soziologie?" heißt denn wohl auch: zur Verehrung von Niklas Luhmann. Es handelt sich nicht darum, bei der richtigen Organisationstheorie anzulangen, sondern Luhmanns Theorie ihrerseits paradox zu verankern, das heißt, jedem Leser eigene Schlussfolgerungen zu lassen. "Die Soziologie iteriert in ihren bedeutendsten Vertretern eine bestimmte Form des Theorieschocks, der jedoch in Wahrheit nichts anderes verbirgt als die simpelsten Einsichten einer Philosophie des Organismus."

 

Gustav Mechlenburg

 

Dirk Baecker: Wozu Soziologie? Kadmos Kulturverlag, Berlin 2004. 351 Seiten, 16,90 EUR. ISBN 3931659550

 

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