3. August 2004

Philosophen lesen Lacan

 

In Tagen der Selbsterfindung der Ich-AG ist es nicht förderlich, vielmehr entmutigend, zu sagen, dass « Ich ein anderer ist ». Aber wenn das Ich nicht in der AG steckt, wo sucht man es dann? Im Fußballstadion? In der Sauna? Überall und nirgends, wahrscheinlich. Auf jeden Fall hat die Psychoanalyse das Rimbaud’sche Diktum wieder aufgegriffen und davor gewarnt, dem „hier und jetzt“ des Individuums allzu sehr zu vertrauen, es produziert, nach Jacques Lacan, „leeres Sprechen“, also Abfall, und alles, was man tun kann als Analytiker, ist, darauf zu warten, dass das Sprechen „voll“ wird. Dann gibt es nämlich Wahrheitseffekte. Aber davon weiß das Individuum meist nichts, denn der Sprecher ist das Subjekt, und das ist, wieder nach Lacan, unbewusst.

 

Antoine Vergote geht in seinem Aufsatz (Le sujet inconscient selon Lacan) der Frage nach, ob es sinnvoll ist, ein wahrheits-konfines Subjekt anzusetzen, das im Unbewussten angesiedelt ist, wie Lacan das tut. Vom philosophischen Standpunkt aus ist das eine ziemliche Katastrophe. Denn es gibt letztlich keine Rückversicherung, die beglaubigt, dass man irgendwann mal sicheres Terrain erreicht, das genauso auch anderen zur Verfügung stehen könnte. Letztlich ist auch der Analytiker nur jemand, der geben kann, „was er nicht hat“. Vergote zeichnet die doppelte Aporie nach, in der, wie der Autor meint, Lacans Konstruktion des Symbolischen stecken bleibt. Da ist zum einen das genetische Moment. Lacan führt das Symbolische bekanntlich ein als Retter des Individuums vor seinem eigenen Imaginären. Das Symbolische distanziert das Ich von seinem eigenen, letztlich selbstmörderisch endenden imaginären Selbstbezug mit seinem Spiegel-Ich, gegen das es nur verlieren kann. Wie aber kann Lacan von einer fundamentalen Entfremdung sprechen, wenn das Ich just in dem Moment des Sich-im-Spiegel-erkennens entsteht? Muss es da nicht etwas geben, was wieder erkannt wird? Hier kommt das hinterlistige Reflexionsproblem ins Spiel, das weder philosophisch noch psychoanalytisch zufrieden stellend gelöst ist.

 

Als zweites wird das Individuum ins Haus der Sprache gesteckt, erst jetzt entsteht das Subjekt im Lacan’schen Sinn, das sogleich gespalten ist, gespalten zwischen Imaginärem und Symbolischem, aber auch innerhalb des Symbolischen zwischen dem Subjekt der Äußerung und dem Subjekt des Geäußerten. Zwischen diesen beiden gibt es keine Kohärenz, kein letztes Wort. Das Haus der Sprache ist im eminenten Sinn ein Haus der Lüge. Anders gesagt: eines der Fiktion, denn im Unbewussten, das wusste schon Freud, geht es sehr poetisch zu, Metapher und Metonymie sind die beiden Königsdisziplinen des „mi-dire“, des Auf-halbem-Wege-stecken-bleibens. Und wozu soll man diesen poetischen Spuren folgen, wenn der Kern unseres Wesens sowieso unsagbar ist und auch der Traum nicht entschlüsselt, Kryptogramme hin oder her? Lacans Subjekt ist also keines, das weiß, es ist radikal unbewusst, es rutscht ständig aus, hin und her, und das ist vermutlich tragischer als komisch. Das Subjekt ist ein road-movie im Keller seines Seins. Dann und wann taucht der Vater auf, und die Avatare der Mütter dürfen auch gern mal zusteigen. Geht nicht sowieso alles im Kreis? Nach dem linguistic-turn heute der pictorial turn, also schon wieder die Bilder, das Imaginäre, das wir doch eigentlich überwinden, zumindest zähmen wollten?

 

Der starke Sprachbezug der Lacan’schen Psychoanalyse ist sicherlich auch dem linguistic-turn des 20. Jahrhunderts geschuldet, es verwundert deshalb nicht, wenn man vom Symbolischen Lacans als einer transzendentalen Kategorie gesprochen hat, nicht zuletzt Lacan selbst. Der Eintritt in die „symbolische Ordnung“ ist das Apriori des mehr oder weniger heilen Subjekts. Dass sich das Subjekt trotzdem meist verkennt, gehört zum tragischen, manchmal auch bösen Spiel. Die unhintergehbare Abhängigkeit vom großen Anderen setzt sich bis in das Begehren des Subjekts fort. Lacan nimmt dabei die Formel Alexandre Kojèves auf, nach der das Begehren des Subjekts das „Begehren des Anderen“ ist, im doppelten Sinn. Rudolf Bernet geht in seinem Aufsatz „Le sujet devant la loi (Lacan et Kant) der Aufhängung des Begehrens nach, das sich, weder bei Kant noch bei Lacan, einem irgendwie inhaltlich bestimmbarem Imperativ verdankt, sondern sich allein an einer formalen Analogie orientiert. In seinem Seminar über die Ethik formuliert Lacan seinen Imperativ, wonach das Subjekt dazu angehalten wird, „nicht in seinem Begehren nachzugeben“. Zwei Klippen gilt es nach Bernet dabei zu umschiffen: Zum einen darf das Subjekt nicht bei einem einzelnen „Ding“ stehen bleiben, das es vergöttert, glorifiziert, letztlich ja nur mit seiner eigenen narzisstischen Libido ausstattet. Da der große Andere genauso „durchgestrichen“ ist wie das Subjekt selbst, gibt es keinen Anlass, eine Position im großen Anderen, von dem ja auch das Begehren abhängt, festzunageln; wie im Karussell heißt es: bitte weiter drehen.

 

Die andere Versuchung, das Gesetz zu umgehen, liegt in der Neigung des Subjekts, nichts links liegen lassen zu können. Das kulturelle Leben des Subjekts folgt aber nicht dem Treiben des „Primärprozesses“. Das Gebot heißt: Selektion. Die kann einem aber niemand abnehmen. Jeder ist für sein eigenes Begehren verantwortlich, auch wenn diese Verantwortung letztlich, also von Anfang an, also paradox: auf der Seite des Anderen liegt. Wenn es bei Lacan heißt: immer schön locker bleiben (nichts anderes ist die Lacan’sche Sublimation), gehen andere „Ethiken“ in die oben beschriebenen Fallen. Es ist die Pointe des Aufsatzes Bernets, die extremen Positionen bei eben jenen Autoren nachzuweisen, denen Lacan einen eigenen Aufsatz gewidmet hat, „Kant avec Sade“. Brutal gesagt, schwebt ständig die Vernunftkeule vor der Entscheidungsnot des Subjekts im Falls Kants. Die Vernunft selbst kennt kein Mitleid, keinen Kompromiss, auch für den Fall, dass es sie, die Vernunft, vielleicht gar nicht gibt. Bei Kant droht also das Vernunftgesetz zum unbarmherzigen „Ding“ zu werden, das das Subjekt total vereinnahmt. Bei Sade dagegen droht das Subjekt, völlig dem blinden naturhaften (Selbst-)Zerstörungstrieb anheim zu fallen; alles ist wert, dass es zugrunde geht, das ist bekanntlich das Prinzip des Teufels. Lacan vermag diese beiden Positionen nur zu vermeiden, als er das Begehren des Subjekts zwar einer übergeordneten (kulturellen) Instanz überantwortet, aber auch diese Instanz keine letzte Authentifizierung liefert. Das zu erkennen und gelassen hinzunehmen ist Sache des Subjekts – und das Ergebnis der „Analyse“.

 

Vor diesem Hintergrund versucht Philippe van Haute der Frage nachzugehen, ob Michel Foucault nicht einem Missverständnis aufsitzt, wenn er die Psychoanalyse (Freud’scher und Lacan’scher Prägung) in einer Tradition sieht, die in der Figur des „Geständnisses“ verankert ist. Zunächst einmal scheint alles für Foucault zu sprechen: Ausgehend von der These, dass die Psychoanalyse das Ritual des Geständnisses nur verwissenschaftlicht hat, führt er die Prozeduren an, mittels derer sich diese Disziplin das einzelne Individuum geständig macht: Der Analysant beichtet (in freier Assoziation für die Trüffel des Unbewussten), danach sagt man dem Patienten, dass irgendwie alles mit der Sexualität zu tun hat, weshalb man über sie reden müsse, und zwar so, dass man sie interpretieren kann (manifest machen, was latent war) und zuletzt beglaubigen, dass das Reden schon die Therapie war. Die Psychoanalyse produziert also einen Diskurs über Sexualität, der sowenig naturalistisch ist wie die Zeremonien der katholischen Kirche. Ist es aber korrekt, dass das Wort der Indoktrination das letzte Wort über die Psychoanalyse behält? Ist die Psychoanalyse nur ein etwas subtileres Disziplinierungsinstrument?

 

Zunächst zeigt van Haute anhand der zweiten Topik Freuds, dass die Instanz des Überichs keine ist, die sich frei an- oder abwählen ließe. Das Überich ist Teil eines Strukturmodells, das gewissermaßen abstrakt die Verantwortung dafür übernimmt, dass Druck ausgeübt wird. Dafür gibt es dann so schöne Worte wie Kastration, Sublimation und Hemmung. Die jeweiligen Eltern sind vielleicht Fürsprecher des Gesetzes, sicherlich aber nicht dessen Erfinder, das sie schließlich selbst an sich erfahren haben. Mag sein, dass das Gesetz „nein“ sagt, zugleich wird versucht, dass ein anderer Weg möglich, eine andere Spur gebahnt wird. Insofern ist die Psychoanalyse weniger ein Disziplinierungs- als ein Bildungsinstrument. Und wenn Lacan das Begehren mit dem Gesetz kurzschließt, heißt das nicht, dass das Subjekt einen ganzen Katalog an Vorschriften abzuarbeiten hat, sondern dass das Subjekt überhaupt erst im Kontakt mit diesem Gesetz (die symbolische Ordnung) entsteht. Das Subjekt „davor“ ist ein Nichts. Von Haus aus bringt es nichts mit, einmal im Haus der Sprache angekommen, hört es dann nicht mehr auf, in den verschiedenen Stockwerken rumzueieren. Und um den Aufenthalt etwas geschmeidiger zu gestalten, dafür ist die Psychoanalyse da. Sie sagt dem Subjekt, dass der Signifikant, der es konstituiert, wie der Igel immer schon da ist. Man muss mit der Sprache, die man nicht selbst erfunden hat, leben. Nur das meint Lacan mit dem Satz, dass das Gesetz des Menschen heteronom ist. Das Begehren muss sich irgendwie in der „Kette der Signifikanten“ artikulieren, es gibt keinen anderen Weg, und ob es dabei auf der Strecke bleibt, kann man erst im nachhinein sehen, aber das ist auch gar nicht so wichtig, denn das Begehren ist nicht das „Ding“, ebenso wenig wie das, auf das das Begehren gerichtet ist. Ach!

 

In einem weiteren Aufsatz des Sammelbands spricht David Harrison Bowen über das Konzept der Objektverbindung im Verständnis von Alice und Michael Balint und Lacans Kritik an diesem Konzept und dem dahinter liegenden Theorem der „primary love“, das von einer Transitivität der Bedürfnisse zwischen Mutter und Kind ausgeht. Steve G. Lofts dringt in die jeweiligen symbolischen Welten Lacans und Ernst Cassirers ein und erarbeitet einen Katalog von fünf Korrespondenzen zwischen den beiden Denkern. Lofts und Philipp W. Rosemann erklären, warum es sinnvoll ist, dem Vorschlag Lacans nachzugehen, dessen „Écrits“ unter der Rubrik „mystische Literatur“ zu verorten. Und zuletzt berichtet Paul Vanden Berghe von einer „seltsamen Allianz“ zwischen Jacques Lacan und Ernst Simmel.

 

Dieser Sammelband zeigt sehr schön, dass es durchaus die Mühe lohnt, wenn Philosophen oder Autoren mit philosophischem Anspruch sich mit dem ja ebenfalls philosophisch ambitionierten Lacan auseinander setzen. Dass das Hauptaugenmerk auf das Register des Symbolischen fällt, dürfte kein Zufall sein. Die Autoren plagen sich an keiner Stelle (bis auf eine Fußnote) mit dem ungreifbaren Objekt a herum, das in der Welt der Ontologie ein äußerst fragiles Statut besitzt. Andererseits muss man sagen, dass das auch mit der Publikationsmache von Jacques-Alain Miller zu tun hat, aufgrund derer eben jenes Objekt erst so langsam durchzusickern beginnt. Und außerdem ist dafür, für das Objekt a, ja auch schon seit längerem Slavoj Zizek zuständig. Talking Objekt a, das ist auch der Übergang von der Akademie in die Popkultur.

 

Dieter Wenk (08.04)

 

La pensée de Jacques Lacan, Questions historiques – Problèmes théoriques, par A. Vergote et al., sous la direction de Steve G. Lofts et Paul Moyaert, Louvain-Paris 1994 (Édition Peeters)