17. Juli 2004

Die Unschuld gibt es nicht

 

Wien 1938. Eine mutmaßliche vierfache Giftmörderin wird hingerichtet. Einige Jahre zuvor stand sie schon wegen Versicherungsbetrugs vor Gericht, wurde aber mangels Beweisen freigesprochen. Die Frau, Karoline Streicher, war ausnehmend schön und verführerisch, allerdings scheint während ihres Prozesses niemand etwas Positives über sie zu Protokoll gegeben zu haben. 60 Jahre später will die Journalistin Marie Horvath über den spektakulären Fall schreiben und sucht dazu den einzig hinterbliebenen Sohn der Hingerichteten auf. Hermann Streicher, ein zurückgezogen lebender und seltsamer Mann, übt von Anfang an eine starke Faszination auf sie aus. „,Wollen Sie die Wahrheit wissen?’, fragte er. ,Das, was nicht in den Zeitungen stand, was im Prozess nicht zur Sprache kam, weil niemand meiner Mutter Glauben schenkte?’ Er beugte sich über den Tisch Marie entgegen und starrte sie mit seinen wüsten, aufgerissenen Augen aus nächster Nähe an. ,Karoline Streicher war das Opfer eines Justizirrtums’, flüsterte er triumphierend.“

Die Geschichte seiner Mutter klingt aus seinem Mund anders als die offizielle Version in den Zeitungsberichten und Prozessakten, nichtsdestotrotz zeichnet auch er kein positives Bild von Karoline. Hermann Streicher, der ungewollte und ungeliebte Sohn, hat seine Mutter gehasst: „Die Hand meiner Mutter hat die Liebe aus mir herausgeschlagen. Mein Vater sah ihr dabei zu.“ Ebenso hat er ihr den Tod gewünscht, wie sehr, offenbart er Marie langsam im Verlauf des Romans. Auch Maries Position als neutrale Beobachterin gerät mehr und mehr ins Wanken, immer mehr wird sie zum Teil von Streichers Welt, ohne sich ihm entziehen zu können.

Auch die Autorin Susanne Ayoub versteht es geschickt,den Leser anhand der unterschiedlichen Perspektiven von Streicher und Marie zu fesseln. Zwar lassen sowohl der Titel als auch das Cover des Romans eher auf eine Herzschmerz-Geschichte mit einer Prise Mord und Totschlag für Hausfrauen mittleren Alters schließen, jedoch lohnt es sich, die eventuell vorhandenen entsprechenden Ressentiments zu überwinden. Man wird mit einer – angeblich sogar auf einem authentischen Fall beruhenden - Kriminalgeschichte belohnt, in der die Morde eher eine nebensächliche Rolle spielen. Zwar geht es letztendlich auch um den perfekten Mord, vornehmlich jedoch um zwischenmenschliche Beziehungen der unterschiedlichsten Art, in denen Liebe eher selten eine Rolle zu spielen scheint. Fast ist man manchmal versucht, sowohl Karolines als auch Hermanns Verhalten als Ergebnis ihrer sozialen und gesellschaftlichen Umstände zu entschuldigen. Aber wo bliebe da das von Karoline so vehement eingeforderte Recht auf Selbstbestimmung? Trotzdem kann sie an Hermann nur weitergeben, was sie selbst in ihrer Kindheit gelernt hat, und das ist vielleicht das eigentlich Tragische in diesem Roman: Kaum eine der auftauchenden Figuren scheint eine wirkliche Chance zu haben, ihrem Schicksal zu entkommen, da es ihnen an den dazu notwendigen Charaktereigenschaften und Möglichkeiten fehlt. So ist Karoline gefangen in ihrem Ehrgeiz, es zu Ansehen und Geld zu bringen, koste es, was es wolle. Ihr Mann Ferdinand verharrt dagegen in Selbstmitleid, er fühlt sich aufgrund seiner Herkunft Karoline überlegen und hasst sie gleichzeitig dafür, dass er von ihr abhängig ist. Es macht den Anschein, als bliebe der kleine Hermann dabei auf der Strecke, doch wird zum Ende des Romans immer deutlicher, wie kreativ er die ihm verbliebenen Möglichkeiten nutzt, um seine Interessen durchzusetzen. Unbewusst angeleitet von seiner Tante Gudrun, die sein Schicksal als ungeliebte Randfigur innerhalb der Familie mit ihm teilt, ist er neben ihr der Einzige, der zumindest Einfluss auf sein Schicksal nehmen kann, ohne dafür von seiner Umgebung zur Rechenschaft gezogen zu werden, da er immer nur als das bemitleidenswerte Kind einer eiskalten Mutter angesehen wird. Doch „[w]er an die Unschuld von Kindern glaubt, ist ahnungslos oder beschränkt. Ich weiß es, weiß es aus meiner eigenen Erfahrung: Die Unschuld gibt es nicht. Ich war der Feind meiner Mutter, noch ehe ich die Bedeutung des Wortes erfasste.“ Diese Aussage Hermann Streichers sollte man beim Lesen des Romans im Kopf behalten.

 

Katrin Zabel

 

Susanne Ayoub: Engelsgift. Roman. Hoffmann und Campe 2004. 368 Seiten

 

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