13. Juli 2004

Geschlechterslalom

 

Die Autonomieästhetik entstand in einer Zeit, in der die Menschen, verführt vom Königsberger Provinzmatador Immanuel Kant, sich noch etwas darauf einbilden konnten und mochten, vernünftiger als jedes Tier zu sein, das sich nicht in dem heillosen Labyrinth aus Instinkt, Trieb und Begehren verfängt, sondern einfach zuschlägt, wo es was zu fischen gibt. Dagegen der Mensch: Er sieht schöne Weintrauben auf einem Gemälde, schluckt vielleicht kurz, aber unauffällig, und fängt an, die Farben zu preisen, mit denen es dem Maler gelungen sei, die Trauben so echt zu „geben“, dass es einem beinah die Speiseröhre anfeuchtelt, worauf sofort der autonom gewordene Pawlow-Reflex sich meldet, der einflüstert, doch bitte davon Abstand zu nehmen, jetzt die Hand auszustrecken nach diesen leckeren Früchten.

 

Schön also sei, was ohne alles Interesse gefällt. Diese absurde Forderung kann sogar Kant nicht aufrecht erhalten. Zu stark sind die magnetischen Bindungen an die praktische Vernunft. Zu verlockend war jedoch auch die Simplizität dieses Satzes, dass dieser nicht von verschiedensten Seiten begierig weiter verwurstelt wurde. Wie schön amoralisch kann man damit sein. Wie raffiniert lässt sich damit die Zuhandenheitsnaht des Bourgeois lösen. Die Utilitarismus-Klammer auf den Müll werfen. Théophile Gautier hat dafür extra ein über dreißigseitiges Vorwort zu seinem Briefroman „Mademoiselle de Maupin“ geschrieben (in zwei Bänden, November 1835 und Januar 1836, erschienen). Fünfzig Jahre nach Kant heißt es also immer noch: Wirklich schön ist nur, was zu nichts nützt. Nach-kantisch ist dann allerdings das Folgende: „Alles, was nützt, ist hässlich“, und, provokativ: „Der nützlichste Ort in einem Haus sind seine Latrinen.“ Der antibürgerliche Affekt des l’art pour l’art.

 

Womit Gautier jedoch völlig Recht hat, ist, darauf hinzuweisen, dass Literatur nicht notwendigerweise die engsten Bindungen mit Religion, Moral und den Konventionen des Alltags unterhält. Wer Literatur ernst nimmt, jedenfalls bestimmte Autoren und Texte, hat allen Grund, sie für nicht ganz so autonom, also unverbindlich, zu halten, wie die Autoren selbst, die Autonomie für sich reklamieren. Gautier plaudert es selbst, noch vor der Autonomieerklärung in eigener Sache, aus: „Dieses Buch ist gefährlich, dieses Buch empfiehlt das Laster…“ Und lasterhaft sind natürlich vor allem die Aristokraten, die sich autonom mit den schönen Dingen des Lebens vergnügen können.

 

In der ersten Hälfte des Romans (der schon damals nicht als ein wirklicher Roman mit viel Handlung, Intrige und all dem gelesen wurde) werden dem Leser die romantisch-nihilistischen Einstellungen eines gewissen Albert ans rezeptions-stoische Herz gelegt, der in der Wirklichkeit nicht die Frau finden kann, von der er träumt. Aber in welcher Wirklichkeit spielt das Ganze? Der amouröse Grundanstrich ist der eines von der Romantik heimgesuchten Laclos, Albert verfügt also über eine reichhaltige Palette in Sachen Liebe und was man dafür hält, der Auftrag der Farbe verbleibt aber eher inwandig. Zwar lernt Albert eine gewisse Rosette kennen, aber Körper- und Seelenerfahrung fahren auf zwei verschiedenen Gleisen, wovon Albert seinem Briefpartner ausführlichst in  der pathetischen Sprache des 17. Jahrhunderts berichtet. Natürlich ist das ganz wunderbar zu lesen, außerdem wirkt der zentrale Befund erstaunlich avanciert: zwischen Mann und Frau gebe es nicht die leiseste Beziehung, weder körperlich noch moralisch („moralisch“ hat im französischen einen wesentlich weiter gefächerten Sinngehalt als im deutschen). Die Vorteile des gegenseitigen körperlichen Nutzungsrechts sind also unbestritten, aber alles, was darüber hinaus geht, die Erhöhung des Liebesobjekts zum unersetzbaren „Ding“, kann nicht aufrecht erhalten werden.

 

Thematisch interessanter ist vielleicht der zweite Teil des Romans, der nur auf den ersten Blick Romantik pur ist. Gewiss, Mantel- und Degengeschichte samt Geschlechterrollenwechsel, aber für die Zeit geht das doch ziemlich weit. Eine junge, hübsche Frau, die Titelfigur, sieht sehr klar, dass ihr Lebenskreis als Frau sehr eingeschränkt ist im Vergleich mit männlichen Entfaltungsmöglichkeiten. Sie tritt also als Mann auf und lernt so die Welt der Männer von innen kennen. Keine Frage, dass sie herb enttäuscht wird. Am Mythos Mann bleibt nichts, Pappkamerad, Großmaul, Feigling, mehr Frosch als König. Weder Frau noch Mann, sitzt sie ein bisschen zwischen den Stühlen, ohne doch ganz die Erfahrung des Teiresias gemacht zu haben, der wirklich Mann und Frau war und sogar den Göttern noch einiges erzählen konnte über den Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Genießen. Ihr bleibt die Klage, weder dem einen noch dem anderen Geschlecht anzugehören und ein drittes zu repräsentieren, das noch keinen Namen hat. Albert klärt sie am Ende zwar noch über die genitale Liebe auf, „diesen dunklen Punkt“, aber sie ist Manns genug, sich nicht zu sehr an ihn anzulehnen. Schließlich gibt es ja auch noch Frauen, mit denen sie Spaß haben kann. Und so weiter im Geschlechter-Seitenwechsel, der der Fantasieleistung des Lesers anheim gestellt wird.

 

„Mademoiselle de Maupin“ ist ein sehr französisches Buch, aber vor allem ist es altgriechisch, denn von dort ragt das zentrale Muster herüber, das alles zermalmende Dogma der idealisierten Schönheit, das die soziale Thematik mehr oder weniger ausklammert und insofern eine Autonomie des Schönen zelebriert, die aber faktisch nicht zum aushalten ist.

 

Dieter Wenk (07.04)

 

Théophile Gautier, Mademoiselle de Maupin, Paris 1966