11. Juni 2004

Stick dich frei!

 

Ob es sich bei der Herstellung von Kunstwerken um ein quasidokumentarisches Verfahren handelt, wobei der Künstler Vorhandenes ins Bild fängt, etwas, auch ohne ihn in der Welt Bestehendes, bearbeitet oder aber eine Schöpfung, die nur durch ihn und für ihn sichtbar ist, ins Werk befördert, ist ein genereller Dualismus, dessen freundliche Überbrückung durch Ästhetiken jeder Schule von Künstlern hartnäckig abgelehnt wird. Recht haben sie. Denn eine Verschwisterung führte zu nichts. Handelt es sich doch jeweils um köstliche Verbohrtheiten, deren Vorzüglichkeit sich gerade aus künstlerischem Starrsinn entwickelt.

 

Wie es sich mit den Künstlerinnen der Prinzhorn-Sammlung verhielt, lässt sich an den Krankenakten nur unzureichend belegen. Einem Betrachter heutiger Tage werden die Zeichnungen, Malereien und Objekte, die bis zum 25. September 2004 in Heidelberg zu sehen sind, sicherlich als Beweis vitaler Welterschaffung und rebellischer Umdeutung erscheinen – mit nur für die Künstlerin einsehbarer Notwendigkeit, denn so etwas sieht man nicht alle Tage, und es ist gewiss kein distanziert dokumentarisches Vorgehen, das Hedwig Wilms ein Service mit Krug, Gießkännchen und Tablett aus Baumwollgarn häkeln ließ.

 

Schreiende und rasende Frauen um die Jahrhundertwende, ungleich skandalöser als um die Jahrtausendwende und vorsorglich weggesperrt, sind Töchter eines Gesellschaftsmodells, welches häusliche Handarbeiten, nützlich und disziplinierend, weil in aller Regel gnadenlos stumpfsinnig, zur Haupttätigkeit der Frauen und Mädchen um 1900 erhob. Diese Kulturtechniken geistern losgelassen in der Produktion der Anstalts-Künstlerinnen und zeitigen unheimliche, rätselhafte, beschwörerische Ergebnisse. Es wird aber nicht nur gestickt, sondern geklebt, gemalt und geschrieben, was das meist kümmerliche Ausgangsmaterial hergibt. Briefe an Menschen außerhalb der Anstalt werden schwarz vor winzigen Lettern, die die bereits notierten erneut überschreiben, die Mitteilung, längst unleserlich, wird immer dringlicher. Schwankend stehen am Ende bleistiftige Rauchsäulen auf dem kleinen Zettel, der seinen Adressaten nie erreichte.

 

Um 1919 schrieb Hans Prinzhorn einen Rundbrief an zahlreiche psychiatrische Anstalten, in der er um „Erzeugnisse darstellender Kunst Geisteskranker“ bat. Erstmals stellt der Katalog der Sammlung Prinzhorn die Werke von Frauen in der Psychiatrie um 1900 vor. Die Begleittexte sind klug, ausführlich und geschickt in die zeitgenössischen Debatte über die Marginalisierung von Künstlerinnen eingelassen. Der Bildteil ist mit biografischen Details der Künstlerinnen flankiert, es gibt historische Hilfestellung zur Dechiffrierung der Themen, Transkriptionen der Kunsttexte und wirklich gute Abbildungen der Arbeiten. Es geht um Kunst, nicht um Frauenkunst oder Irrenkunst.

 

„Letztwillige Verfügung. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als nicht in diesem Zimmer begraben zu werden! Denn Erstmal ist mir´s wurst, wenn in diesem Zimmer das Klavier wegkommt und meiner Mutter Kindersaiglein hingestellt wird

2tens 2 ist mirs widderlich dass The style c´est l´homme Humani nil (i nichil a me alenium sunt) Alle Keilpolster der Welt können mich nicht dazu bringen ...“

 

Nora Sdun

 

„Irre ist weiblich“, Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900, Katalog zur Ausstellung der Sammlung Prinzhorn, 264 Seiten, Wunderhorn 2004

 

Weitere Stationen der Ausstellung: 22. Februar – 22. Mai 2005, Altonaer Museum in Hamburg

 

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