11. Juni 2004

Überlebenskämpfe der Theodizee

 

Wer hätte das gedacht. Noch im 21. Jahrhundert wird der Menschheit ein neuer Trieb beschert, und zwar ausgerechnet von der Philosophie, unter Federführung von Susan Neiman, zurzeit Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Allerdings lässt die Autorin erst ganz zum Schluss die Katze aus dem Sack, die jedoch schon über weite Strecken des Textes aus ihm herausgeschaut hat. Insofern hält sich der Schock in Grenzen, wenn dann eben die Rede vom „Theodizeetrieb“ ist. Unter Theodizee verstand man früher das philosophische Problem, wie man redlicherweise an Gott glauben darf, obwohl so viel Blödsinn in der Welt passiert. Es war Leibniz, der seine Leser versicherte, dass sie, auch wenn das Böse noch so obsessiv sich aufdränge, nicht daran zweifeln dürften, in der Besten aller Welten zu leben, weil die Begrenztheit des menschlichen Verstandes gewisse Kalamitäten nicht richtig zuordnen könne. Verbesserungsvorschläge der Menschen würden also immer ins Leere gehen. Im Grunde hat Leibniz so die Steilvorlage für Adorno gegeben, denn er, Leibniz, konnte getrost schreiben: Es gibt richtiges Leben im falschen, ja, es ist umso richtiger, je falscher es ist. Bei Leibniz zeigte sich einmal mehr, dass philosophische Finessen nur schwer verallgemeinerbar sind. Es war die Erde selbst in Form eines Erdbebens, die das Leibniz’sche Gedankengebäude zum Einstürzen brachte. Nach „Lissabon“ (das Erdbeben fand 1755 statt) war Theodizee in dieser Spielart hinfällig. Das Programm wurde entschlackt: Die Unterscheidung zwischen natürlichem und moralischem Bösen wurde aufgegeben. Gott musste so nicht mehr für Naturkatastrophen verantwortlich gemacht werden. Und da der Mensch anfing, autonom zu werden, war der Herr des Ganzen fein aus dem Schneider. Das 19. Jahrhundert gleitet derart von einer Theodizee zu einer Anthropodizee (Susan Neiman behält den ehrwürdigen Titel jedoch bei). Strukturell verschiebt sich das Problem der Rechtfertigung lediglich. Der Mensch konfrontiert sich jetzt selbst mit seinen eigenen Ansprüchen. Und mit dem, was er für böse hält. Das Problem des Buches von Susan Neiman ist, dass es 400 Seiten braucht, um an diesem Punkt anzukommen. Leider ist ihre Geschichte der Philosophie nicht so „anders“, dass sich ein weiterer Überblick über die Geschichte der Theodizee gelohnt hätte. Hier hätte ein Lektor als Jivaro auftreten müssen. Die einzelnen Kapitel sind viel zu lang und zu konfus, der Leser vergeht in Wartestellung, und je weiter er liest, desto stärker drückt sich der Verdacht auf, dass es bei diesem Buch weniger um das Böse geht, über das man nicht viel erfährt, als darum, aufzuzeigen, dass es die gute alte Theodizee trotz widrigster wirklicher Umstände geschafft habe, ein philosophisches Leben zu führen – bis heute. Diese Philosophiegeschichte ist also eher eine Firmengeschichte. Und wenn es so etwas wie Verfall gibt, dann liegt das nicht an der Firma, sondern eher an der Belegschaft, die das Unternehmen zu ruinieren droht. Auf Seite 411 heißt es melodramatisch: „Es führt kein Weg daran vorbei: Wir müssen uns eingestehen, wie viel wir verloren haben. Steht Lissabon für den Zeitpunkt, an dem uns die Unhaltbarkeit der traditionellen Theodizee bewusst wurde, dann hat Auschwitz uns zu Bewusstsein gebracht, dass es ihren Nachfolgern nicht besser ergeht.“ Man liest ganz richtig: Auschwitz wird hier als „Kürzel“ verwendet, um den Stand der Dinge bezüglich des ontologischen Geschichtssurfers Theodizee anzuzeigen: dass Theodizee nicht mehr richtig zieht, dass man sich aber auch nicht über sie hinwegsetzen kann und dass das das oberste Problem darstellt. Man gewinnt den Eindruck, die Autorin habe sich so in ihren Diskurs eingeigelt, dass sie da nicht mehr heraus kommt. Sie erreicht das Böse gar nicht, anders gesagt, sie stellt keinen Versuch an, verschiedene Einkleidungen dafür zu finden oder zu benennen, um eventuell auf die Paradoxie zu stoßen, dass das, was die einen böse nennen, das genaue Gegenteil von dem ist, was andere dafür halten. So begnügt sich die Autorin, den Terror des 11. September 2001 als „atavistisch“ zu bezeichnen. Das hilft erstens nicht weiter, und zweitens ist es falsch. Oder es werden Sätze gereicht wie diese: „Das Böse ist nicht bloß das Gegenteil, sondern auch der Feind des Guten.“ Das ist hilfloser Substanzialismus. Direkt im Anschluss heißt es: „Das wahrhaft Böse strebt danach, moralische Unterscheidungen selbst auszulöschen.“ Wie das gehen soll, weiß ich nicht, auf jeden Fall wäre unter dieser Voraussetzung der islamistische Terror fein raus. Dieses Buch ist leider ziemlich uninspirierend und sehr langweilig zu lesen.

 

Dieter Wenk

 

Susan Neiman, Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, übersetzt von Christiana Goldmann, Frankfurt 2004 (Suhrkamp)