21. Mai 2004

Schöner, neuer Fußball

 

Fast beiläufig verabschiedet Klaus Theweleit die Systemtheorie, der er freilich nie ganz zugeneigt war, mit einem Buch über Fußball. Wer das Buch liest, merkt, dass das noch nicht einmal frech ist, denn es stimmt einfach: Die Systemtheorie hat sich selbst überlebt. Während Luhmann ab den 60er/70er Jahren Codierungen an die jeweiligen Systeme verteilte, um ihnen ihr ganz spezifisches und unübertragbares Funktionieren zuzusichern, lachte sich zur gleichen Zeit Jean Baudrillard ins Fäustchen, da nach der Installation des anonymen Master-Codes durch die Revolution des strukturalen Wertgesetzes im Grunde alles mit allem austauschbar war (was einschloss, seine Theorie für den größten Humbug zu halten).

 

Was die 60er/70er Jahre angeht, hatte Luhmann vielleicht noch Recht. Niemand hätte damals eine deutsche mit einer brasilianischen Mannschaft verwechseln können. Doch dann kamen die Computer, und mit ihnen, mit dem ganzen digitalen Anhang, kam die Schnelligkeit und der Abschied von der Geschichte. Ein ganzes Fußball-Aufstellsystem brach zusammen, was manche heute immer noch nicht begriffen haben wie Günter Netzer, die, so Theweleit, immer noch an Tugenden hängen (à propos fehlende „Spielmacher“), die keine Realität mehr auf dem Spielfeld haben. Keine Pässe also mehr in die „Tiefe des Raums“, da spätestens seit den genialen Holländern diese von der Viererkette zugewuselt ist. Moderner, „digitaler“ Fußball folgt keiner vorgeprägten Ideologie mehr, es wird vielmehr das jeweils passende Programm „heruntergeladen“, egal zu welcher Nation die Spieler gehören. Und so geht Theweleits Hauptsatz:

 

„Verschiedene Spielsysteme werden zunehmend kombiniert. Denkende Spieler erkennen das jeweils Nötige und schalten entsprechend um. Holländische, spanische, französische, englische, deutsche, italienische, brasilianische ,Tugenden’ liegen in Spielern aller Länder vor. Sie verfügen über ein Arsenal von Spielweisen – abgespeichert in ihrer Bewegungsstruktur. So wie alle Zeiten gleichzeitig im Computer vorliegen.“

 

Es ist nun sehr interessant, was Theweleit mit einer solchen Diagnose macht. Auf der einen Seite nämlich ergibt sich, dass bei gleich starken Mannschaften einfach keine Tore mehr fallen, weil die Programme auf dem Tisch, sprich auf dem Rasen, liegen und niemand mehr überrascht werden kann. Auf der anderen Seite kommt doch wieder das Glück oder der Zufall ins Spiel, weil Reaktionen sich doch nicht hundertprozentig bestimmen lassen und zu guter Letzt die Pfeife des Schiedsrichters den Ball in nicht vorhergesehene Richtungen zu lenken imstande ist. Konkret heißt das etwa, dass Deutschland durch die dichte Kulinarik des schwarzen Glatzenmannes der Titel durch die Lappen gegangen ist.

 

Klaus Theweleit hat ein sehr unterhaltsames, im besten Sinne belehrendes Buch über Fußball und, ja, über die Welt geschrieben, denn hast du eins, hast du alle… Systeme. An dieser fraktalen Pointe geht die Systemtheorie zu Grunde.

 

Dieter Wenk

 

Klaus Theweleit, Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell, Köln 2004 (kiwi)

 

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