30. April 2004

Terror ohne Fundament

 

Das Verfahren der Dekonstruktion bestimmt seit geraumer Zeit weite Teile des gesellschafswissenschaftlichen Diskurses. Die Erkenntnis, dass beispielsweise Zuschreibungen wie Ethnizität und Fundamentalismus Phänomene der globalisierten Moderne sind, ermöglicht deren strategisch politische Einordnung und geschichtliche Relativierung. Der Konstruktionsgedanke spielt allerdings ein seltsames Spiel, geht er von einer zu füllenden Leerstelle aus. So bei Christoph Türcke in dessen Abhandlung „Fundamentalismus – maskierter Nihilismus“. Ohne Zweifel ist es sinnvoll, in die Debatte zum 11. September noch einmal eine Begriffsbestimmung des Fundamentalismus einzubringen und dabei neben dem islamistischen den christlichen und zionistischen Fundamentalismus hervorzuheben. Türckes Idee aber, dass all diese unterschiedlichen Phänomene auf einen modernen Nihilismus zurückzuführen sind, greift zu kurz. Denn nach dieser Argumentation wäre Fundamentalismus einzig als Reaktion auf ein religiöses Defizit zu verstehen, das als anthropologische Grundkonstante angenommen werden müsste.

 

Zunächst folgt man Christoph Türcke gerne, wenn er die geschichtliche Kontingenz der verschiedenen Fundamentalismen aufzeigt. Er erwähnt die Entstehung des Begriffs, der 1910 durch die Schrift „The Fundamentals“ des Öl-Millionärs Lyman Stewart geprägt wurde. Protestantisch christliche Werte wurden darin gegen die Untergrabung durch Aufklärung und kapitalistische Industrialisierung heraufbeschworen. Insbesondere der darwinistischen Kränkung, dass der Mensch Ergebnis einer natürlichen Evolution sei, wurde biblisch widersprochen. Der christliche Glaube sollte wieder das Fundament des „richtigen“ Lebens bilden.

 

In einem kurzen geschichtlichen Abriss macht der religionswissenschaftlich geschulte Autor deutlich, in welcher Tradition der amerikanische Fundamentalismus steht. Das Christentum ist von Anfang an eine große Gegenbewegung gegen die „monotheistische Abstraktion“ des Alten Testaments, das auch Nietzsche als Anfang des Nihilismus bezeichnete. Doch alle Letztbegründungen und Gottesbeweise, die über Jahrhunderte versuchten, ein unzweifelhaftes Fundament für den Glauben zu finden, blieben so leer wie Descartes Selbstgewissheit. „Je schärfer man den letzten Grund begrifflich zu fassen suchte, desto ungreifbarer und abstrakter wurde er.“

 

Das ist der Grund, warum Türcke die verzweifelte Suche nach Gewissheit mit dem Nihilismus der Moderne zusammendenkt. „Fundamentalismus und Nihilismus stecken tief ineinander. Entweder man begreift und bekämpft beide zusammen – oder keinen von beiden.“

 

Der christliche wie der jüdische Fundamentalismus weisen allerdings eine enorme Beweglichkeit auf. „Wenn sich herausstellt, dass man die Moderne nicht ablehnen, ihren manifesten Nihilismus nicht verbieten kann, dann muss man sich damit arrangieren.“ Die Evolution wird mit historisch-kritischer Bibelforschung eingeholt und Motorradpfarrer und Werbeexperten lassen Kirchen in zeitgemäßem Licht erstrahlen.

 

Wie aber steht es mit dem Islamismus? Er ist einfach zu spät gekommen, meint Türcke. Die Erschütterung kam nicht wie bei Christen und Juden, die maßgeblich die Modernisierung vorantrieben, aus dem eigenen Denken, sondern von Außen. „Erst die moderne Globalisierung hat den Djihad zu dem gemacht, was wir gegenwärtig erleben: einem weltweiten fanatisch-zerstörerischen Zurückschlagen gegen die Kräfte der Moderne, die den Islam tiefer verletzt haben als das Christen- und Judentum.“

 

Für Türcke ist der islamistische Terror also keineswegs aus der Gewissheit der einzig richtigen Welterklärung geboren, sondern aus der Furcht, dass es gegen den Nihilismus der westlichen Kultur kein Gegenmittel gibt. Die Ironie besteht darin, dass der Islamismus nur ins Zentrum der westlichen Welt vordringt um den Preis, dass er selbst macht, was er als Inbegriff nihilistischer Massenkultur schmäht: Show. „Der Fundamentalismus hat am 11. September die westlichen Werte erschüttert, indem er die Sprache der verhassten haltlosen Unterhaltungskultur sprach und Massenmord als Riesenspektakel veranstaltete.“

 

Dass der terroristische Fundamentalismus dennoch funktioniert, liegt daran, dass Selbstmord allein schon den besten Beweis für die Richtigkeit der eigenen Werte liefert. „Wofür man derart sein Leben gibt, das KANN nur das Gewisseste, Höchste, am Ende Siegreiche sein.“

 

Und so ist man nach der Lektüre von Christoph Türckes kurzweiligen, sachkundigen und mitunter mutigen Abhandlung so schlau wie zuvor. Mit radikalen Fundamentalisten kann man nicht reden. Und zum modernen Nihilismus gibt es keine Alternative. Warum es aber keine fundamentalen Überzeugungen geben soll, die weder aus Neid entstehen noch als Reaktion auf die Modernisierung, wird nicht geklärt. Das Nullsummenspiel des Konstruktivismus holt alles ein, nur eben nicht das Fundament.

 

Gustav Mechlenburg

 

CHRISTOPH TÜRCKE: Fundamentalismus – maskierter Nihilismus. Zu Klampen Verlag, Lüneburg 2003. 154 Seiten, 12,80 Euro