27. April 2004

18. Jahrhundert, erlesen

 

Dies ist ein kleines Buch für Eingeweihte. Für Leser mit viel Muße, obwohl oder gerade weil der aus sechs Aufsätzen bestehende 180-seitige Band eher schmal ist. Spezialisten überforderte er eben deswegen, weil sie vielleicht einen Beitrag nachvollziehen könnten, vor dem Rest aber kapitulieren müssten. Claude Lévi-Strauss gilt seit langem als sehr akademischer, furchterregend gebildeter und schwieriger Autor. In „Das wilde Denken“ nennt der Autor sein Denken „anekdotisch und geometrisch“, er ist eine Persönlichkeit „mit gleichgültiger Stimme und ausdruckslosem Gesicht“ (so Simone de Beauvoir über den Antipoden ihres Castors), George Steiner charakterisiert die Arbeiten des mittlerweile 96-jährigen Lévi-Strauss als „außerordentlich kompliziert und fast verschlossen“.

 

Man hat beinah den Eindruck, dass der Autor mit seinem Wissen verletzen wollte, zumal sich die meisten der hier versammelten Abhandlungen in dem oft als leicht und oberflächlich verstandenen 18. Jahrhundert aufhalten und der Leser über die Bande erfährt, dass er von dieser Zeit keine Ahnung hat. Man muss also sehr viel Wissen mitbringen, damit man überhaupt versteht, und man muss Interesse haben an Erörterungen, die bisweilen so eng begrenzt sind wie eine kleine Modulation in einem Musikstück, das man noch nie gehört hat. Die Aufsätze tragen spröde Titel wie: Poussin betrachten, Rameau hören, Diderot lesen oder Worte und Musik und Töne und Farben. Der abschließende Essay mit dem scheinbar synoptischen Titel Überblick über die Gegenstände greift auf (Lese-)Erfahrungen des Autors zurück, die dieser mit Indianerstämmen Süd- und Nordamerikas gemacht hat.

 

Der erste Text (Poussin betrachten) will mir als der zugänglichste erscheinen. Lévi-Strauss führt darin unter anderem den nicht linguistisch verstandenen Terminus der „doppelten Artikulation“ vor, den er sowohl in der Literatur (bei Proust) als auch in der Malerei (bei Poussin) ausfindig machen zu können glaubt. Unter dem Ausdruck der „doppelten Artikulation“ lässt sich eine Kompositionsweise verstehen, nach der „Einheiten erster Ordnung“, die bereits für sich literarischen oder künstlerischen Rang beanspruchen können, in eine übergeordnete Formation integriert werden. Proust habe zum Beispiel in seiner „Recherche…“ oft mit Resten gearbeitet, die er an bestimmten Stellen einfügte und die so dem Romanzyklus einen gewissen synkretistischen Zug verliehen.

 

Ausgehend von Analysen Meyer Schapiros zu Seurats „Sonntagnachmittag auf der Ile de la Grand Jatte“ zeigt Lévi-Strauss, wie die Montagetechnik der doppelten Artikulation auch schon bei Poussin beschrieben werden kann. Bereits Delacroix war bei Poussin „eine äußerste Trockenheit [der] Figuren“ [allerdings negativ] aufgefallen, „die keine Verbindung zueinander haben und [die] geradezu ausgeschnitten erscheinen“. Während sich bei Proust die doppelte Artikulation in der Zeit festmachen lasse, so bei Poussin in der räumlichen Dimension.

 

Zum Besten des Buchs von Lévi-Strauss lässt sich sagen, dass es sich aus solchen (strukturalistischen) Trouvaillen zusammensetzt. Dieser Mann weiß einfach so viel, dass er alles mit allem in Beziehung setzen kann. So erfährt man beinah nebenher, was Kant’sche Mittelglieder, Mandelbrot’sche Fraktale und Naturbeobachtungen Delacroix’ gemeinsam haben. Das ist sehr spannend zu lesen, auch wenn der Stil des Autors überaus gelehrt und emotionslos daherkommt. Und vielleicht fängt man wirklich mal damit an, ein paar Autoren des 18. Jahrhunderts (wieder) zu lesen, und sei es bloß, um später wieder bei Claude Lévi-Strauss zu landen, dann aber bewaffnet mit Diskursen, von denen wir schon lange nicht mehr träumen. Die Aufsätze werden ergänzt durch eine kleine Bibliographie und ein Namensregister.

 

Dieter Wenk

 

Claude Lévi-Strauss, Sehen, Hören, Lesen. Aus dem Fraanzösischen von Hans-Horst Henschen, Frankfurt/Main 2004 (Suhrkamp; Paris 1993, Plon)