25. April 2004

Im Reich des Ohrwurms

 

So, wie man vor Gemälden steht und fragen kann, woher denn jetzt bitteschön das Licht in dem Bild kommt, so durfte man früher durchaus mit dem Kopf schütteln, wenn in einem Film Musik erklang, aber keine Musiker zu sehen waren. Das akusmatische Prinzip war den Anfängen des Films fremd. Die Musik musste motiviert sein. Später merkte man, dass Filme viel besser funktionieren, wenn der Betrachter gar nicht mitkriegt, wo die Musik spielt. Mehr noch: dass überhaupt. Funktionelle Hintergrundmusik, muzak.

 

Vor diesem Hintergrund muss man nicht unbedingt eine Provokation darin sehen, dass Alfred Hitchcock seinen besten Filmmusikkomponisten, Bernard Hermann, selbst auftreten lässt, denn Hermann dirigiert zwar, sogar in der Londoner Royal Albert Hall, aber dann doch nicht seine eigene Musik. Was Hermann aber vorführt, ist, dass selbst diese Musik vor erlauchtestem Publikum, E-Musik, in dem Rahmen des Films nur ein Anlass ist für etwas anderes, für etwas, für das Musik nie etwas anderes sein kann als ein Hilfsmittel, nämlich Hitchcocks suspense. Was den Zuschauer des Films interessiert, ist nicht, ob die Sängerin Alt oder Sopran singt oder wie viel Bläser Lärm machen, sondern ausschließlich, wann ein bestimmter Musiker aufstehen wird, um das Becken zu bedienen und was dann noch passiert, unabhängig von der Musik.

 

Die Provokation, wenn man überhaupt davon sprechen will, wird zur Ironie, wenn man bedenkt, dass Hitchcock hier E-Musik genau so behandelt wie Filmmusik. Genauer, E-Musik wird zur Filmmusik, indem sie exakt den Spannungsbogen orchestriert, den die Handlung des Films in diesem Moment zurücklegt. Ein gedungener Mörder sitzt in einer Loge, sein Opfer, der britische Premierminister, in Sicht- und bequemer Schussweite, und als dritte im Spiel Jo McKenna, die um ihren Jungen Olsen kämpft und vor der schwierigen Entscheidung steht, den Mund zu halten und ihren Sohn zu retten (wenn sie überhaupt ihren Erpressern trauen darf) oder sich irgendwie bemerkbar zu machen und den Staatsmann vor dem Tod zu bewahren mit der Konsequenz, dass dann ihr Sohn stirbt.

 

Jo entscheidet sich für eine Performance. Und man bedenke, dass es sich bei der Schauspielerin um die sonst so biedere Doris Day handelt. Man glaubt plötzlich, die letzten Takte von Alban Bergs „Lulu“ zu hören, der Schrei Lulus, als sie von Jack the Ripper attackiert wird. Immerhin lenkt Jos Schrei die Kugel ab bzw. macht der Premier eine unvorhergesehene Bewegung, er überlebt, der Schuss verfehlt sein Ziel, der Killer (in Hitchcocks Fassung dieses Films aus dem Jahr 1935 war das Peter Lorre) stürzt von der Empore und stirbt.

 

Ist es Zufall, dass um 1955 der Situationismus entstand? Eine zweite, fast noch genialere „Entwendung“ von Musik bietet Jo in der noch ausstehenden Rettungsaktion ihres Sohnes. In der Botschaft, in der sie auch ihren gefangenen Sohn vermutet, bittet sie darum, eine kleine musikalische Darbietung zum Besten zu geben. In der Hoffung, dass Olsen auf seinen Lieblingssong „Que sera, sera, whatever will be, will be“, den Jo vor einem verstörten Publikum zu eigener Klavierbegleitung singt, mit einem erfreuten Pfeifkonzert antworten wird, legt die mutige Mutter los. Das Lied will nicht aufhören, Jo wird lauter und lauter (war das der Grund für den Oscar?), und der an der Tür lauschende Vater (James Stewart) hört endlich, dass die Musikanten zusammengefunden haben. Dann wird’s noch mal kurz spannend, weil ein anderer Bösewicht die Befreiung vereiteln will, aber alles endet gut, und das ganz ohne Fatalismus.

Wer aber war der Mann, der zu viel wusste?

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Alfred Hitchcock, Der Mann, der zu viel wusste, USA 1956</typohead>