15. April 2004

Jenseits ist diesseits

 

Was „Nach dem Christentum“ (so die Übersetzung des amerikanischen Originaltitels, New York 2002) kommt, weiß auch Gianni Vattimo nicht, aber er will es auch gar nicht wissen, denn erklärtermaßen beabsichtigt er nicht, das Christentum zu verlassen, um eventuell auf etwas zu stoßen, was dem gleichkäme, was Freud mit „Jenseits des Lustprinzips“ anvisierte. Die Pointe dieses Buchs ist, dass die Immanenz des Christentums nicht nur postuliert, sondern als Heilsgeschichte verstanden wird, an deren Vollendung zu arbeiten „wir“ aufgerufen sind.

 

Gianni Vattimo ist als der italienische postmoderne Philosoph bekannt, auch wenn es zwei deutsche Philosophen sind, mit denen er vor allem seine Überzeugungen formuliert. Nietzsche und Heidegger haben die Epoche eingeleitet, die Vattimo als „nachmetaphysisch“ oder als postmodern beschreibt, „in der man sich die Wirklichkeit nicht mehr als eine fest in einem einzigen Fundament verankerte Struktur denken kann“. Das ist unter anderem ein Effekt des von Nietzsche festgestellten Todes Gottes. Mit Heidegger betrachtet Vattimo die Auflösung des archimedischen Punktes als den Prozess einer „Verfallsgeschichte“, an deren vorläufigem Endpunkt das steht, was der Italiener das auch von ihm selbst praktizierte „schwache Denken“ nennt. Übrigens ganz unironisch, was in der Postmoderne ja nicht ganz üblich ist. Wenn das Denken schwach ist, bringt es nichts mehr aus sich selbst hervor, und wenn, kann es das nicht entschieden verteidigen.

 

Es ist deshalb nicht verwunderlich, was Vattimo unter postmoderner Wahrheit versteht, nämlich „Übermittlung von Botschaften“. Der postmoderne Philosoph ist also eine Art receiver, der das vernimmt, was ihm zugeschickt wird. Was aber ist die Botschaft, und wer schickt sie? Was hat unter postmodernen Bedingungen, unter denen alles unter Kontingenzverdacht steht, Gewicht? Wie Heidegger ist Vattimo Ursprungsphilosoph. Wer sehen will, was wirklich zählt, muss an den Anfang des gesamten historischen Prozesses zurückgehen. Frappierend in dem folgenden, für das Buch sehr typischen Zitat ist die Ausschließlichkeit, mit der Vattimo formuliert: „Sobald sich das Abendland nicht mehr allein als die Alternative zum Reich des Bösen definieren lässt, das durch den kommunistischen Totalitarismus repräsentiert wird, und auf autonome und positive Weise die eigene Physiognomie zu finden sucht, ist das, worauf es stößt, der eigene christliche Ursprung in Form eines Erbes, das gewiss transformiert und ,abgezweigt’, aber doch so verfasst ist, dass es sein einziges identifizierendes Element darstellt.“

 

Das ist die auf mehreren Ebenen beschreibbare Zumutung des Buchs. Vattimo stellt Behauptungen auf, die er nicht begründet („sein einziges identifizierendes Element“); zwar weiß er das auch selbst, aber unter postmodernen Bedingungen könne eben nur interpretiert werden, und solange ihm keine überzeugenderen Interpretationen vorlägen, bliebe er bei seiner. „Wahr“ ist aber auch, und auch das ist Vattimo klar, dass jede Interpretation eine „Gemeinschaft von Interpreten“ benötigt, um überhaupt Geltung zu beanspruchen. Wer hier keine Überzeugungsarbeit leistet, geht leer aus.

 

Zweitens bleibt Vattimo nicht bloß bei Interpretationen stehen, sondern argumentiert (wie schlüssig und überzeugend auch immer) und rechnet mit Einsicht. Drittens sind seine Argumente oft kurzschlüssig: Auf die Tatsache, dass wir in einer bestimmten Tradition stehen, folgt keineswegs, dass wir ihr „verpflichtet“ sind oder auf ihren „Ruf“ hören müssen. Hier macht sich der fatale Einfluss Heideggers bemerkbar, der es wie kein anderer Philosoph verstanden hat, den „Spätgeborenen“ ein schlechtes Gewissen zu machen. Viertens wird weder hier noch an anderen Stellen klar, was Vattimo mit dem „christlichen Ursprung“ (an anderer Stelle jüdisch-christlicher Ursprung) meint. Die bloße „Fleischwerdung“, die der Autor hier und da nennt, ist mir, sit venia verbo, ein bisschen zu dünn, als dass ich damit einen einigermaßen konsistenten Gedanken verknüpfen könnte. Fünftens ist mir nicht einsichtig geworden, warum man gerade unter postmodernen Bedingungen „frei“ sei, „das Wort der Heiligen Schrift zu hören“. Das Alte Testament, das Neue Testament, welches Wort?

 

Vattimo spricht hier und da von caritas (durchaus im Sinne von Habermas’ Konsens), aber interessant wäre doch gewesen, wenn Vattimo vorgeführt hätte, wie man damit realpolitisch umgeht. Es mag ja ganz sympathisch sein, wenn Vattimo den Versuch unternimmt, der noch voll metaphysisch strukturieren (katholischen) Kirche Konzepte zu entwenden, um einen personalisierten Gebrauch zu gestatten. Um die zu erwartende kommunitaristische Falle sollte man sich jedoch keine Illusionen machen. Der Hauptvorwurf jedoch, den man Vattimo machen muss, betrifft das so genannte „schwache Denken“ selbst, denn was vermag es, wenn es auf Stärke trifft? Wie kann das Christentum seiner unterstellten „Berufung“, universale Religion zu sein, entsprechen, wenn es diese nicht aktiv gestaltet, und sei es lediglich in der moderierenden Art und Weise, die Religionen insgesamt ökumenisch ins gemeinsame Gespräch zu verwickeln. Vattimo spricht immer von „wir“, aber ich muss gestehen, dass ich mich nicht angesprochen gefühlt habe. Es ist eher so, dass ganze Abschnitte abstoßen, so die Betrachtungen zur „Heilsgeschichte“, die Rede vom „Reich des Sinnes“ und der prophetische Duktus, in dem das formuliert ist: „Wenn wir den Ruf der ästhetischen Emanzipation, den uns die neue Existenzsituation vorschlägt, nicht hören, so nur deshalb, weil wir noch allzu sehr durch den ,Buchstaben’ der heiligen Texte gelähmt sind…“

 

Sätze wie diese sollten sich Philosophen, auch wenn sie Heideggerianer sind, von selbst verbieten. Man muss nur einmal als Antwort ein „genau“ auf diesen „Vorschlag“ des Rufs geben, um vielleicht nicht die Absurdität, aber doch die unfreiwillige Komik zu bemerken, die die prätendierte Ernsthaftigkeit des Satzes unterläuft. Nicht zu reden von den dekonstruktivistischen Spielchen, die an anderer Stelle mit einem Komma getrieben werden; das sind akademische Profilierungen, die mit der Sache nichts zu tun haben. Vattimo ist es nicht gelungen zu zeigen, „wie es der postmoderne Pluralismus (…) gestattet, den christlichen Glauben wiederzuentdecken.“

 

Dieter Wenk

 

Gianni Vattimo, Jenseits des Christentums. Gibt es eine Welt ohne Gott?, aus dem Italienischen von Martin Pfeiffer, München Wien 2004 (Hanser)