11. April 2004

Kommentierte Romantik

 

Der Aufruf der Phänomenologen: „Zu den Sachen selbst!“, ließe sich bequem um ein halbes Jahrhundert vorverlegen – als Motto des aufkommenden Realismus, der es nicht länger litt, den Unendlichkeitstaumeln gekonnt stammelnder oder brillierender Sehnsuchtswesen beizuwohnen. Natürlich war deren Programm sehr anspruchsvoll, aber es war leider, wie sich immer wieder zeigte, unerfüllbar, führte notwendigerweise in die Katastrophe, Selbstmord oder Wahnsinn.

 

Nach der Re-Katholisierung vieler betroffener Schriftsteller, die im Glauben einen Ausweg suchten, zog das Biedermeier als erste Nachfolgeepoche die Konsequenzen. Man wurde bescheiden. Gustave Flaubert sparte das Biedermeier aus und betrieb sogleich Textkritik am und im eigenen Werk. Der Realist Flaubert begann als Romantiker, allerdings schon in der zweiten Potenz, als Konsument Byrons, Werthers und Chateaubriands. Liest man in den „Memoiren eines Irren“, meint man manchmal, schon Arthur Rimbaud zu vernehmen. Das klingt alles schon ziemlich modern, um nur bloß romantisch zu sein. Natürlich lauert auch hier die romantische Falle an allen Ecken, um den Einzelnen seine Begrenztheit erfahren zu lassen, seine Überflüssigkeit, was ihn zu Verschmelzungsfantasien führt, die, wie ausführlich berichtet wird, unerfüllt bleiben müssen. Aber noch fehlt die Distanz, die diese Haltung auf Lebbarkeit überprüft.

 

Dieser Abstand im Text selbst gelingt Flaubert in „November“, wie die Memoiren eines Irren postum erschienen. Die Erzählung beginnt als Klage eines lebensüberdrüssigen, nicht mehr ganz so jungen Mannes, führt bilderreich die hohen Ziele und schnellen Abstürze vor, konfrontiert den Leser mit der kurzen Liebesgeschichte des Helden mit einer resignierten, früher einmal liebeshungrigen, Prostituierten, die nie den Mann fand, den sie hätte lieben können, und auch dieser Liebestaumel, von dem der Leser hätte glauben dürfen, dass sich endlich zwei seelenverwandte Schwerstexistenzen begegnet wären, um sich zu sich selbst zu befreien, endet schon nach kurzer Zeit mit der ahnungsvollen freiwilligen Trennung, dass auf diesem Terrain prinzipiell zu hoch gepokert wird.

 

Ausgesprochen wird das Desaster aber erst in dem zweiten Teil dieser Geschichte, der gewissermaßen vom Nachlassverwalter des romantischen Helden als Kommentar dem Höhenflug mit Doppelabsturz angehängt wird. Der Held wird besprochen, der Ich-Erzähler zum Gegenstand des analysierenden Er-Erzählers. Von hier aus bietet sich, gerade für Flaubert, die Bezeichnung des Realismus als kommentierter Romantik an. Thematisch geht es immer noch um die Tragik überschießender Herzen. Aber das Herz führt nicht mehr selber den Stift. Es wird von einem anderen aufgeschrieben. Das ist die unangestrengteste Art von Ironie, erreicht allein durch den Wechsel des Beobachterstandpunkts. Von diesem aus lassen sich dann unterschiedlichste Geschütze abfeuern. Oder aber, wie bei Flaubert, gar keine. Hier liegt alles in der Kunst der Vorführung. Das Leiden und die Sehnsüchte der Figuren werden Ernst genommen, es ist schließlich auch das des Autors, der von sich behauptete, Emma zu sein, und zugleich zieht er sich aus ihnen zurück.

 

In November ist der Erzähler (des zweiten Teils) noch stärker bemerkbar. In Madame Bovary hat er sich ganz in der zweigleisig operierenden freien indirekten Rede verborgen, eine Figur, die Nähe suggeriert und Distanz bewirkt. Lässt sich so Romantik erfolgreich aus der Welt schaffen?

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Gustave Flaubert, November, Zürich 1991</typohead>