7. April 2004

Ein anderes „Moskau“

 

Film mit Beipackzettel. Der Umgang mit dem Bösen. Wie das Böse sich selbst richtet. Fabulöser Skorpion, der im Moment größter Gefahr den giftigen Stachel gegen sich selbst richtet. Das Böse in diesem Film ist eine Frau, Rose mit Namen (Bette Davis). Rose ist mit Henry (Joseph Cotton) verheiratet, sie wohnen in einem kleinen Ort vor den Toren Chicagos. Henry ist Arzt, zuständig für alles und jeden, ein Hausarzt, wie man ihn kaum noch kennt. Die Leute lieben ihn. Mit dem Geld ist er nicht so streng, die Leute sind eher arm und können ihn nicht so schnell bezahlen.

 

Das wurmt Rose. Sie träumt von ganz anderen Verhältnissen. Aber sie ist keine Träumerin, Melancholie liegt ihr ganz fern, eher müsste man sie depressiv nennen. Und gefährlich. Sie kann ihre Träume nicht vergessen, ein Leben in einer Großstadt, und das Fatale an ihr ist, dass sie der festen Überzeugung ist, dass ihr dieses andere Leben auch zusteht. Sie ist klug, attraktiv (ohne schön oder gar bloß hübsch zu sein, sie hat sogar etwas dezidiert Hässliches im Vergleich zu den gewohnten Hollywood-Schnepfen), und sie hat die Hosen an, auch wenn sie die ganze Zeit Röcke trägt. Bis auf einmal, als sie von Zuhause ausbricht und nach Chicago geht, um dort mit ihrem Liebhaber Ron zusammenzukommen, der ihr versprochen hat, sie zu heiraten. Der aber sagt kurzfristig ab, da er eine andere kennen gelernt hat. Rose bricht zusammen, lässt sich aber finanziell nicht ausstopfen als Entschädigung. Soviel Würde muss sein.

 

Der Gatte trägt es mit Fassung, als sie wieder zu ihm zurückkommt. So eine Frau wird er nie wieder finden. Wie finden solche Menschen überhaupt zusammen? Wie viel Blindheit braucht es? Liebe macht wirklich blind? Und das ist dann also das Böse? Wenn jemand merkt, dass er plötzlich sieht und alles ganz anders aussieht? Der Gatte ein Helfertyp, aber kein Liebhaber. Ein Arzt, kein Dandy. Ein vom Beruf geknechteter, und kein lebensfroher Unternehmer in Sachen Leben. Die Realität öffnet die Augen, und ein Stachel wächst (im amerikanischen Originaltitel ist es das Haus im Hinterwäldlerischen, das sich bemerkbar macht). Dann steht Ron wieder zur Verfügung. Die beiden planen, nach Mexiko zu gehen. Doch da ist eine Person, die zu viel weiß. Die die Reise stornieren könnte, wenn Ron erführe, dass Rose schwanger ist. Das würde ihm gar nicht gefallen. Also muss dieser Wissende sterben.

 

So setzt der Film auch ein. Schwenk über die Stadt, ein akustisch erstaunlich modern wirkender Sprecher (frisch synchronisiert) zeigt uns einen menschenleeren Ort, alle sind im Gerichtssaal, wo Rose des Mordes angeklagt ist. Dann wird im Rückblick die Geschichte erzählt, bis man erneut im Gerichtssaal ist und Rose freigesprochen wird. Rose drängt, jetzt zu gehen, Ron ist vorsichtiger, will ein paar Monate abwarten. Dann wäre das Kind da. Jetzt fängt der Stachel an, sich umzukehren. Rose will nicht Mutter werden. Stürzt sich aus dem Auto, fällt einen Abhang runter, überlebt, ist aber mental doch schon sehr angeschlagen. Ihr Traum hört auch jetzt noch nicht auf, auch wenn es jetzt keine Grundlagen mehr gibt, die ihn irgendwie stützen könnten. Völlig haltlos bricht sie auf, verlässt Bett und Haus, es zieht sie zum Zug, dem nach Chicago, dieser bläst und dampft und tutet wie wild, im Hintergrund schmettert das Sägewerk sein Feuer in den Nachthimmel, das Leben ist so brutal, so brutal wie der Schnitt zwischen Kuss und Axt in der Mitte des Films, dann fährt der Zug, und Rose ist nicht dabei. Sie stirbt, in den Händen ihres treuen Gatten. Dann ist das Melodram zu Ende, und man hat doch Lust bekommen, mehr Filme mit Bette Davis zu sehen.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>King Vidor, Der Stachel des Bösen, USA 1949</typohead>