4. April 2004

Wahr was?

 

Wenn man schon nicht mehr Romantiker sein kann, wo man auf die Frage, wohin man gehe, getrost antworten durfte, dass es immer nach Hause gehe, so darf man sich auch heute noch einer Klientel sicher sein, wenn man davon spricht, dass sich der Mensch von sich selbst entferne, auch wenn dieser Mensch nur als ein sich entfernender gezeigt wird, ohne die andere Seite der Naht, vor der Trennung. Dieses logisch schwer zu tragende Kreuz trägt jede Dekadenztheorie. Weil: Logik muss Moral tragen.

 

Scheinbar einfacher haben es Überlegungen, die nicht von einem kostbaren Ursprung ausgehen, sondern eine Zwischenetappe zum Ziel erklären, wie vor geraumer Zeit im Spiegel zu lesen war, dass erst die Sprache den Menschen zum Menschen gemacht habe. Mensch war der Mensch zwar auch schon davor, aber noch nicht richtig eben. So ganz einfach ist dieses Modell natürlich auch nicht, denn wenn der Mensch erst mal spricht, geht das Chaos erst richtig los, und um da wieder Ordnung zu schaffen, geht wohl der Mensch nicht drauf, aber doch – Menschen.

 

Es ist deshalb nicht unriskant, auf welcher logischen Seite man auch stehen mag, von der „Antiquiertheit des Menschen“ zu sprechen, wie das vor bald 50 Jahren Günther Anders getan hat. Ob diese 170 vom Herausgeber in zehn thematische Blöcke geteilte Seiten nun ein Best-of-Album darstellen oder nicht, Anders bleibt die Antwort auf die Frage schuldig, wann denn „der Mensch“ nicht „antiquiert“ war. Vielleicht hat diese Lücke damit zu tun, dass Anders Technik als ein Sonderkapitel innerhalb der menschlichen Geschichte betrachtet, Technik also irgendwann mehr oder weniger dramatisch zum Menschen hinzugekommen sei (wie „seinerzeit“ die Sprache) und es vor dieser Koinzidenz einen Menschen gegeben habe, der technikfrei gelebt hätte. Technikfrei heißt dann einfach: frei. Unter dem Diktat der Technik kehren sich die „Dinge“ um: „Frei sind die Dinge: unfrei ist der Mensch.“ So einfach geht das.

 

Das ist der Mythos, den es in anderer Form zum Beispiel auch bei Jean Baudrillard oder Paul Virilio zu lesen gibt. Und dieser Mythos ist eine Variante der Geschichte vom Sündenfall – etwas moderner gesprochen, eine Variante des Prinzips der reversiblen Verdeckung, wonach man jeweils das, was man gerade nicht braucht, in den Hintergrund rückt, das Böse oder das Gute im Menschen zum Beispiel. Das macht das (unfreiwillig?) Reaktionäre dieser Autoren aus. Sie scheinen mit ihren „Analysen“ ganz dicht dran zu sein an der Gegenwart, weisen auf gar nicht zu leugnende schwer wiegende Veränderungen innerhalb der vor allem technischen Entwicklung hin, und machen es sich dann doch sehr leicht, indem sie das, was da als Bruch oder Revolution beschrieben wird, als apokalyptischen Makel dahinstellen, an dem sich die ganze menschliche Malaise demonstrieren lässt. Sie machen Angst, ohne uns auf eine Reise zu einem Ort mitzunehmen, wo es keine Angst gibt. Sie diagnostizieren totale Verblendungen und sind doch die einzigen, die den Schleier zu Sais lüften durften, ohne dabei in die Totenstarre der Enttäuschung zu fallen (Baudrillards „Verführung“ hat es nie „in der Wirklichkeit“ gegeben, sie ist ein Titel – im ökonomischen Sinn – auf Wirklichkeit). Die Autoren fallen vor allem durch ihre rhetorische Wucht auf, und machen dabei vergessen, dass Schmuck und Ornat vor allem Priester nötig haben oder auf der anderen Seite des Altars der dann wieder draußen ubiquitäre Zeitgenosse, der an alles mögliche relativierenden Zeitreisen allerdings überhaupt kein Interesse mehr hat, vielleicht weil er ahnt, dass er dabei seine zweite Unschuld (die Wiege des Diskurses) verlieren würde.

 

Man fragt sich als Leser also ständig, was da überhaupt kritisiert wird, denn es ist klar, dass Anders und Co. nicht in erster Linie als Politiker schreiben, sondern als nicht abwählbare, kritikimmune Propheten. Anders und die anderen können es nicht verwinden, dass Menschen einfach nur kleine unbedeutende Wichte sind mit der allerdings bedenklichen Fähigkeit, alles mögliche zu erfinden. Aus dieser Unterscheidung von Wicht und Wahn ergibt sich das, was Anders „prometheische Scham“ nennt, und die Anstrengungen, die unternommen werden, um diese Scham zu verbergen, sind die Geschichten, aus denen der „Mensch“ sich seine Weltgeschichte zimmert. Die Unwichtigkeit des Wichts, der seine Vernachlässigbarkeit nicht zulassen will, das ist die ganze Tragödie, die man auch als Komödie sehen kann. Aber das sind letztlich Fragen des Temperaments, nicht des Arguments, es gibt hier auch keine Übertreibungen, schon gar nicht in Richtung Wahrheit, denn wo es immer schön im Kreis geht, gibt es keinen Grund, zum Apokalyptiker zu werden.

 

Es spricht für Günther Anders, dass er manchmal auch andere Töne anschlägt, wie zum Beispiel in „Der Blick vom Mond“ aus 1970: „Schon redet man vom Mars. Welch ein Glück, dass Gott der Herr so viele Sterne geschaffen hat. Und auch so viele  auf der Fahne der USA.“ Stern, so hieß Günther, bevor er Anders wurde.

 

Dieter Wenk

 

Günther Anders, Übertreibungen in Richtung Wahrheit. Stenogramme, Glossen, Aphorismen, hg. von Ludger Lütkehaus, München 2002 (Beck)