1. April 2004

Homeless

 

Diese auf einen Vortrag von 1927 zurückgehende Schrift hat es nach wie vor in sich. Das liegt u.a. daran, dass die politischen Begriffe nichts von ihrem „polemischen“ Charakter verloren haben. Wer des einen politischer Freund war, kann schon in kürzester Zeit zu seinem Feind werden. Wie substanzhaft Erklärungen wie die des Erz- und Erbfeindes auch immer daherkommen, so lassen sie zu einem späteren Zeitpunkt erkennen, dass sie Entscheidungen zu einem bestimmten Zeitpunkt und Anlass waren. Ändern sich diese, vergeht auch die ihr zugeordnete Polemik, die sich äußerstenfalls als Krieg äußert.

Carl Schmitts Begriffsschrift versteht sich natürlich selbst als polemisch, also als kriegerisch. Damit ist sie aber in einer Paradoxie befangen, die sie aus eigener Kraft nicht aus dem Weg räumen kann. Für ihre eigene Sicht der Dinge aufs Politische kann sie keine Argumente anführen, und das hat mit der hier getroffenen Bestimmung des Politischen unmittelbar zu tun. Anders als Wirtschaft, Moral, Ästhetik usw. bezeichnet das Politische „kein eigenes Sachgebiet“. Das flexible, dynamische, fast schon „situationistisch“ zu nennende „konkrete Ordnungsdenken“ Schmitts ist vielmehr in der Fähigkeit fundiert, Freund-Feind-Unterscheidungen treffen zu können, was dem staatlichen Souverän obliegt, mit dieser Unterscheidung womöglich „den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen“, und aufgrund einer vollzogenen Feindmarkierung dann auch bis zum Äußersten, also zum Ernstfall, zu gehen.

Nach Schmitt steht und fällt das Politische mit dieser Unterscheidungsfähigkeit. Dem liberalen Denken spricht er diese Fähigkeit ab, da der Liberalismus aufgrund der Gewaltenteilung das Einheitsmoment des Staates zerstört habe und damit die Position, von der aus zentral, souverän und aus einem „seinsmäßig“ existentiellen Grund der Feind sich bestimmen lässt. Gründe für Feindbestimmungen findet man hier vergebens. Bei Schmitt regiert der reine Vollzug, irrationale Momente negiert er keineswegs. Umgekehrt ergibt sich das Irrationale, Dezisionistische überhaupt erst aus dem Fehlen eines „eigenen Sachgebiets“ des Politischen.

Wenn Carl Schmitt sich nun wundert, „mit welcher Selbstverständlichkeit der Liberalismus außerhalb des Politischen die ‚Autonomie’ der verschiedenen Gebiete des menschlichen Lebens …anerkennt“, so liegt das vielleicht einfach daran, dass Liberale ein anderes Verständnis von Politik haben, das sich nicht in erster Linie am möglicherweise interessanteren Ausnahmefall orientiert und dass sich das Politische im Schmitt’schen Sinn gar nicht autonomisieren lässt. Und das liegt daran, dass der Schmitt’sche Entscheider keine wie auch immer geartete Norm ist, sondern ein sehr menschlicher Faktor mit allem Unberechenbaren, was dazugehört. Der Liberalismus teilt nicht die agonale Einstellung der „bösen“, klassisch-politischen Theoretiker, er findet sich nicht wieder in den politischen Theologien, die zuletzt alle auf Diktatur hinauslaufen, und er hat keine Probleme damit, Kriegserklärungen, die auch ihm nicht fremd sind, zurückzubinden an Institutionen und Prozeduren, die seine nationalstaatliche Befugnis überschreiten.

Natürlich hat Schmitt Recht, wenn er sagt, dass Freund-Feind-Unterscheidungen mit der Etablierung von Völkerbünden oder Vereinten Nationen nicht aufhören, aber sie bekommen damit ein anderes Statut, das vielleicht nicht weniger diktatorisch ist als ein Invasionsbefehl, aber das Statut ist immerhin allseits bekannt, zum Beispiel als Erklärung der Menschenrechte, gegen die man kommunitaristisch natürlich einen Aufstand machen kann. Das letzte politische Wort ist also noch nicht gesagt.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=1>Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 2002 (1932)</typohead>