30. März 2004

Über Peter zu Franz

 

Der Blickwinkel ist eigenartig: Es wird die Geschichte eines deutschen Auswanderers erzählt, die davon lebt, dass in ihr ein Mann – der Vater des Auswanderers – vorkommt, über den man mehr erfahren möchte. Doch genau diese Person, um die es letztlich geht, glänzt durch Abwesenheit. Wie ein Schatten bewegt sie sich durch das Buch, zeigt kurz ihre Konturen und verschwindet dann wieder.

 

Auch wenn es anders gedacht gewesen sein mag: Die von Annett Gröschner und Peter Jung vorgelegte (Auto-)Biografie Peter Jungs lebt in erster Linie von der Widersprüchlichkeit und dem Facettenreichtum der Figur Franz Jungs (1888–1963), Peters Vater. Der Schriftsteller, den Rezensenten gern mit den Klischees „Dadaist“, „Schiffsentführer“ und „gescheiterter Revolutionär“ charakterisieren, bewegte sich in der Hälfte des 20. Jahrhunderts wie ein tragischer Vagabund durch das von Revolten und Kriegen erschütterte Europa. Getrieben von einer Sehnsucht nach Veränderung, die schließlich in der Zerstörung seiner selbst und seiner Umwelt mündete.

 

Deprimierend, aber auch fesselnd und auf eigenartige Weise konsequent sind seine autobiografischen Schriften. Tief gehend, düster, kompromisslos. Ganz anders hingegen der Tonfall seines Sohnes Peter. In ruhiger, sehr entspannter Weise erzählt er die Familiengeschichte, die einem Melodram gleichgekommen sein muss.

 

Der 1932 in Berlin geborene Sohn aus Franz’ dritter Ehe verlässt Deutschland mit den Eltern, beides Journalisten, bereits 1937 als Fünfjähriger. Der Vater hat wieder einmal Probleme mit der Staatsmacht; diesmal wird er wegen Kontakten zu einer antifaschistischen Widerstandsgruppe gesucht. Die Familie landet nach längeren Zwischenstationen in Wien und Genf schließlich 1940 in Ungarn, wo die mit Nazi-Deutschland alliierte Regierung Admiral Horthys innenpolitisch etwas lockerer agiert. Franz Jung schlägt sich als Wirtschaftskorrespondent durch – eine Tätigkeit, die er in finanziellen Notsituationen immer wieder ausübt und später als großes Hindernis für seine literarische Entwicklung bezeichnen wird.

 

Noch bevor Ungarn 1944 von deutschen Truppen besetzt wird, zerbricht die Familie. Der Vater beginnt eine Beziehung mit einer Tänzerin, löst sich auf die für ihn charakteristische, gefühllos wirkende Weise von seiner Frau Harriet und sucht, wie es scheint, sogar einen neuen Lebensgefährten für Peters Mutter. Als die Rote Armee vor Budapest steht, setzt sich Harriet mit dem Sohn Richtung Deutschland ab. Ohne den Familienvater beginnen die beiden in Bad Nauheim ein neues Leben. Franz Jung hingegen, der auch unter sowjetischer Herrschaft mit Verfolgung rechnen muss, taucht unter und schlägt sich nach Italien durch. Erst 1947 findet er mithilfe seiner Ex-Frau Cläre die von ihm verlassene Familie wieder. Es bleibt bei postalischer Korrespondenz. Franz Jung geht wenig später in die USA, wohin ihm sein Sohn im Sommer 1949 nachfolgt. Die Familie, die nie richtig eine war, erlebt eine neue Trennung – diesmal eine endgültige. Die mittlerweile von Franz geschiedene Harriet erhält kein Einreisevisum, bleibt in Bad Nauheim und stirbt ein halbes Jahr nach Peters Abreise.

 

Sohn und Vater beginnen in New York eine neue Existenz. Während Franz den düsteren „Weg nach unten“ beschreitet, der ihn schließlich zurück nach Europa führen und ihm dort einen einsamen Tod bescheren wird, schlägt Peter die entgegengesetzte Richtung ein. Das mittellose Einwandererkind arbeitet sich hinauf. Schon als Schüler jobbt er während der Ferien; er erkämpft sich ein Stipendium, gehört auch an der Universität zu den Besten und schafft es schließlich bis ins Management des Erdölkonzerns Esso.

 

Der Verlag Edition Nautilus betont zwar, dass man „Ein Koffer aus Eselshaut“ als von der Franz-Jung-Gesamtausgabe unabhängiges Projekt betrachte, doch ganz überzeugen will die Aussage nicht. Worüber man im Buch auch liest – ob nun über die Jahre, als die Familie Jung noch vereint in Budapest lebt, oder über Peters Existenzgründung im texanischen Houston –, ständig sucht man Informationen, die etwas über den Vater erzählen. Dessen Handlungen, Überzeugungen und Schaffen bleiben jedoch eigenartig blass. Der Sohn hebt es selbst mehrfach hervor: Er wisse über seinen Vater weniger als viele von dessen Biografen. Einige familiäre Begebenheiten hätten sich ihm erst erschlossen, als er die verschworene literarische Anhängerschaft seines Vaters 1995 auf einem Symposium kennen gelernt habe.

 

Franz Jung wandelt offensichtlich nicht nur durchs Buch wie ein Schatten, er tat es offensichtlich auch in der eigenen Familie. Auf der Strecke blieb so etwas wie Nähe und Fassbarkeit. Der Revolutionär Franz Jung, der die Welt und Leben verändern wollte und in so vieler Hinsicht mit den bürgerlichen Konventionen radikal brach, verhielt sich seinen Mitmenschen gegenüber wie ein Fremder. Insofern ist die eigentümliche Perspektive von „Ein Koffer aus Eselshaut“ durchaus schlüssig gewählt. Die Leerstellen erzählen über den Abwesenden mehr, als explizites Reden es je könnte. Die Reisenotizen Annett Gröschners verstärken diesen Eindruck noch. Die Berliner Schriftstellerin wandelt auf den Spuren der Jungs, besichtigt Orte, sucht Zeitzeugen auf. Dabei wählt sie eine Erzählform, in der es weniger um Biografisches im Eigentlichen geht als um Räume und Szenarien. Die Intercity-Fahrt auf einer Strecke, über die die Jungs nach Budapest kamen; der Spaziergang am Pier 84 in New York. Man erfährt durchaus, dass Vater und Sohn hier 1949 wieder zusammengekommen sind, und doch sind die Notizen Gröschners so, dass nie jene falsche Authentizität behauptet wird, mit der das biografische Schreiben „Wahrheit“ zu konstruieren versucht.

 

Dass „Ein Koffer aus Eselshaut“ im letzten Drittel schließlich doch nicht völlig überzeugt, hat mit dem Grundproblem zu tun. Die Biografie des Sohnes trägt nicht allein. Man interessiert sich eben doch mehr für den Vater. Für dessen Einsamkeit in den letzten Jahren, sein Bekenntnis des Scheiterns, seine Sprachlosigkeit. Man liest zwar davon in den Briefen zwischen Vater und Sohn, aber die Hoffnungslosigkeit Franz Jungs erschließt sich einem daraus nicht wirklich. Und so hat man als Leser das Gefühl, sich am falschen Schauplatz zu befinden; der falschen Geschichte zu folgen.

 

Man mag viele Einwände gegen den Revolutionär und Schriftsteller (vom Mitmenschen ganz zu schweigen) Franz Jung vorbringen können; seine Geschichte fasziniert einen. Auf diese Weise sorgt die (Auto-)Biografie des Sohnes vor allem für eins: Neugier auf die Geschichte des Vaters. Gut möglich, dass man im Verlag letztlich genau das im Kopf gehabt hat.

 

Raul Zelik

 

Annett Gröschner / Peter Jung: Ein Koffer aus Eselshaut. Berlin – Budapest – New York, Edition Nautilus 2004

Franz Jung: Der Weg nach unten, Edition Nautilus 2000