23. März 2004

Schönes Leben, neu aufgelegt

 

Manche literarische Stilmittel geraten mit der Zeit derart außer Gebrauch, dass sie sich einem als Leser einige Jahre später kaum noch erschließen. Z. B. das des kollektiven Erzählers. Eines Ichs, das nicht nur für einen einzelnen Protagonisten steht, sondern für ein ganzes Massensubjekt und damit die allgemein übliche Konstruktion von Realität grundsätzlich in Frage stellt.

Der 1971 erstveröffentlichte und von Peter Chotjewitz ein Jahr später ins Deutsche übertragene Roman von Nanni Balestrini Wir wollen alles ist aus dieser Perspektive geschrieben und erzählt von den Brüchen, die Italien Ende der 1960er Jahre erschüttern. Junge italienische Arbeitsmigranten erzählen ihre Geschichten über Verweigerung und Streiks und verschmelzen dabei zu einer einzigen Person.

Gemeinsam mit den Büchern Die Unsichtbaren (das die 1977er Jugend- und Kulturrevolte zum Thema hat) und Der Verleger, in dem Balestrini die Freundschaft zu seinem Verleger Federico Feltrinelli aufarbeitet (der sich 1973 bei einem Anschlag selbst in die Luft sprengt), bildet Wir wollen alles eine Trilogie über den – wie es in Italien emphatisch heißt – Kampfzyklus zwischen 1969 und 1980.

Doch anders als man nach diesen Hinweisen vielleicht vermuten könnte, ist Balestrini kein in erster Linie politisch motivierter Autor. Der 1935 geborene Mailänder gehört vielmehr zu jenen rar gesäten Schriftstellern, die Position, Inhalt und Form gleichermaßen berücksichtigen. Als Neo-Avantgardist frühzeitig auf Distanz zu den „politischen“, das hieß damals: der Kommunistischen Partei nahe stehenden Schriftstellern Nachkriegsitaliens gegangen, schrieb er in den 60er Jahren überwiegend Lyrik und beschäftigte sich mit Fluxus und Techniken der Sprachzertrümmerung. Mit den neuen Bewegungen ab 1969 öffnete sich für ihn eine Tür zur direkten Erzählung, denn der gesellschaftliche Aufbruch brachte, wie Balestrini sagt, auch eine neue, unverbrauchte Sprache hervor. Balestrini begann, die Berichte von Aktivisten zu protokollieren – eine Technik, an der er auch nach der Trilogie, etwa in dem Fußball-Buch Die Furiosi festgehalten hat. In Wir Wollen Alles fällt diese literarische Form vergleichsweise ‚realistisch’ aus; in seinen Romanen der 80er Jahre ist der Umgang mit der Prosa deutlich experimenteller und deshalb auch aufregender. Doch als historisches Dokument ist Vogliamo Tutto dennoch ein in sich schlüssiges und powervolles Buch. Eine ganze Generation widersetzt sich der Arbeit und realisiert den Sprung ins Utopische: die unmittelbare Aneignung des Lebens. Keine schlechte Idee, dass manche Studenten das Motto aus den italienischen Arbeitskämpfen zuletzt für Proteste im öffentlichen Nahverkehr und vor teurer gewordenen Schwimmbädern wieder entdeckt haben. Wir wollen alles – und zwar umsonst, sofort und für alle.

 

Raul Zelik

 

Nanni Balestrini: Wir wollen alles, Assoziation A Verlag 2003, ISBN 3-935936-20-3, 12 Euro