24. Oktober 2025
Rebecca Hawkins mit ihrer Bronzeplastik „Petrified Survivors“ ((c) 2025 BBC-News).
Rebecca Hawkins, Mother & Child, Bronze und Stahl, 2019 ((c) 2019 London Remembers).
Rebecca Hawkins, The Gurkha, Bronze, 2015 ((c) 2015 Tony Flashman, Folkestone).
Lorenzo Bernini, Apollo und Daphne, Marmor, 1622-1623 ((c) 1993 Galleria Borghese, Rom).
Rebecca Hawkins, Petrified Survivors, Bronze und Stahl, 2025.
Die Augenhöhlen des toten Opfers sind mit Draht durchbohrt, der Mund mit Draht vernäht.
Eine Taube pickt an den Fesseln des toten Opfers.
Stahlsockel mit Angabe der Himmelsrichtungen.


SCHRECKENSBILD IN BRONZE UND STAHL: „PETRIFIED SURVIVORS“ VON REBECCA HAWKINS

 

Von Wolfgang W. Timmler


Auf dem Wedding finden sich Orte, welche noch weniger Atmosphäre haben als das „Meer der Träume“ auf der Rückseite unseres Mondes. Ein derartiger Unort in unmittelbarer Nachbarschaft zur Berliner Hochschule für Technik ist der Mittelstreifen der Lütticher Straße zwischen Limburger Straße und Ostender Straße. Außer Büschen und Bäumen und Gras hat die kleine Grünanlage unweit des 1992 neu gegründeten Anti-Kriegs-Museums nichts zu bieten; sie ist kein Ort für romantische Liebespaare und auch kein Ort für liebevolle Eltern. Keine Parkbank lädt zum Verweilen ein, kein Sandkasten zum Spielen, nur ein schmaler Trampelpfad dient Hundehaltern als Spazierweg. Fast nirgendwo sonst ist es auf dem Wedding so trostlos und leer, doch seit dem 9. September 2025 ist dieses schmutzige kleine Nichts der Standort eines figürlichen Bildwerks aus Bronze und Stahl, wenn auch nur für kurze Zeit. Nach zwei Jahren wird es Berlin wieder verlassen und in die Niederlande zurückkehren.


 

„Petrified Survivors“ lautet der Titel der zwei Meter hohen Plastik, an der Rebecca Hawkins vier Jahre lang gearbeitet hat. Nach seiner Fertigstellung ist das Kunstwerk im Juli 2025 in der Haager Residenz des Britischen Botschafters bei der Europäischen Union enthüllt, danach im Garten der Deutschen Evangelischen Gemeinde im Haag ausgestellt und anschließend im August 2025 von Den Haag nach Berlin transportiert worden, der dritten und vorletzten Station seiner Wanderschaft. „Petrified Survivors“ ist als Denkmal für alle Opfer von sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten gedacht und von der Künstlerin gemeinsam mit überlebenden Opfern und Mitarbeitern von Menschenrechtsorganisationen gestaltet worden. Hawkins befasst sich in ihren Arbeiten schon seit Längerem mit der Opferthematik. 2019 vollendete sie die Plastik „Mother & Child“, welches den Opfern einer Massenvergewaltigung im Vietnamkrieg gedenkt und heute im Londoner St. James Park aufgestellt ist. Sowohl in der Größe als auch in der Gestaltung weist dieses Denkmal viele Ähnlichkeiten mit dem 2025 vollendeten Werk auf.


 

Dass die Bildhauerin offenkundig keinen Widerspruch darin sieht, ihr bildhauerisches Können auch in den Dienst der Krieger und Täter zu stellen, wie sie es bei ihrem heroischen Gurkha-Denkmal in Folkestone aus dem Jahre 2015 tat, das einen stehenden Infanteristen in voller Kampfmontur und Bewaffnung detailreich darstellt, müsste nicht nur die überlebenden Opfer befremden, auch dem deutschen Förderverein des Denkmals in Berlin (Society against Sexual Violence in Conflict e. V. (SASVIC e. V.)) hätte das künstlerische Doppelspiel eigentlich große Kopfschmerzen machen müssen. Dass die Hawkins-Plastik außerdem ein mutmaßlich politisch anstößiges Opferdenkmal im Nachbarbezirk Moabit ersetzt, ist von der Lokalpresse zu Recht gerügt worden, soll hier aber nicht näher erörtert werden; im Berliner Intrigenspiel ist der britischen Künstlerin bloß die Rolle einer Nebenfigur zugedacht.


 

Nicht weniger Kopfzerbrechen bereitet auch der rätselhafte Titel, der mehr als fremdartig für eine Metallplastik klingt und einer Contradictio in adjecto gleichkommt. Rebecca Hawkins hat ihr Bildwerk nämlich an keiner Stelle in Stein ausgeführt, und bei einer genaueren Betrachtung kann von einer „Versteinerung“ oder „Erstarrung“ ebenfalls keine Rede sein. Wie Lorenzo Berninis Marmorskulptur „Apollo und Daphne“ schildert „Petrified Survivors“ eigentlich eine Metamorphose, aber im Gegensatz zur antiken Nymphe kommt die namenlose Figur der britischen Bildhauerin dabei um, während ihr älterer Künstlerkollege aus Rom seine in Stein gemeißelte Figur als Lorbeerbaum weiterleben lässt.


 

Wiederkehrendes Bildmotiv bei Rebecca Hawkins Verwandlungsdarstellungen ist die sogenannte Würg- oder Mörderfeige (engl. Strangler Fig Tree), die andere Bäume durch Umschnüren zum Absterben bringt und dann als abenteuerliches Gespenst, schief aufgerichtet, für sich alleine dasteht.


 

Bei „Petrified Survivors“ hat der „Mörderschlinger“ sein Werk bereits vollbracht. Die Tote hat keinen Unterleib mehr, auch keine Beine. Ihr Oberkörper mit den auf dem Rücken gefesselten Händen wird von einem Geflecht aus Wurzeln getragen, welches wie ein Kleid aus Spitzen wirkt, das mit allerlei Zierrat besetzt und zum Sockel hin zu einer Art Schleppe verbreitert ist. Der Kopf der Toten ruht zurückgebeugt im Nacken, wodurch die geflochtenen Haare unter dem Kopftuch sichtbar werden, während das Gesicht mit den leeren, drahtdurchbohrten Augenhöhlen und dem drahtverschnürtem Mund dem Himmel stumm zugewandt ist. Von dort oben hat die Schmerzensfrau allerdings keine Rettung zu erwarten; die Götter der Moderne helfen nicht, sie spielen lieber.


 

Das Wort „HOPE“, das auf der Brust der Toten eingeritzt ist, klingt darum wie Hohn, und wie zum Spott erscheint auch noch ein himmlischer Bote in Gestalt einer Taube, der viel zu spät losgeschickt worden ist. Wer einer Toten die Fesseln lösen muss, hat ihr entweder nicht helfen können - oder wollen.


 

Hawkins Schmerzensfrau ist in Unterlebensgröße dargestellt, ebenso das puppengroße Kind, das sie auf ihrem Rücken trägt. Die beiden Figuren sind in einer Scheibe aus geschweißtem Stahlblech verwurzelt, auf der oben die vier Weltgegenden Nord, Süd, Ost und West als Buchstabenkürzel eingetragen sind. Wie bei einem Kompass stellt der Sockel den Horizont dar, die scheinbare Grenze zwischen Erde und Himmel. Ob die Bronzeplastik die Kompassnadel symbolisiert, bleibt der Fantasie des Betrachters überlassen; das Bildwerk, das sich ansonsten sehr geschwätzig gibt und mit unzähligen eingeritzten Aussagen übersät ist, hüllt sich hierbei in bronzenes Schweigen.


 

Die Frauenfigur strebt nach Süden und verharrt zugleich. Pflanzliches Wachstum und eine kurvige Linienführung prägen die Gestaltung des Bildwerks. Im Umriss erscheint „Petrified Survivors“ gleichsam als eine Welle, die auf ein Hindernis geprallt ist und nun zurückweicht wie die weibliche Figur, die angstvoll vor etwas zurückgeschreckt ist, das für den Betrachter aber unsichtbar bleibt. In „Petrified Survivors“ klingen Formen des Jugendstils an, die Rebecca Hawkins jedoch mit symbolischem Beiwerk derart überfrachtet, dass sich viele Details ihres Werks erst nach einem Begleitstudium bei SASVIC e. V. und nicht im Betrachten an Ort und Stelle erschließen. Anders als im plump naturalistisch gestalteten „Gurkha“ hat die britische Bildhauerin bei „Petrified Survivors“ das zugegeben sehr anspruchsvolle Thema stilistisch verfehlt und die künstlerische Aussage nicht auf den Punkt gebracht.




I. Quellen: 1. Bezirksamt Mitte, Pressemitteilung Nr. 207/2025, 09.09.2025 (Skulptur „Petrified Survivors“ Berlin-Mitte eingeweiht - Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad und Künstlerin Rebecca Hawkins zu Gast im Brüsseler Kiez (https://www.berlin.de/ba-mitte/aktuelles/pressemitteilungen/2025/pressemitteilung.1596421.php)). - 2. Curtis Lancaster: War zone sexual violence sculpture completed. In: Online-Ausgabe der BBC-News vom 04.06.2025 (https://www.bbc.com.uk/news/articles/cz9y0kq4ne2o). - 3. Bianca Cetkovic: „Petrified Survivors“ Mahnmal im Garten der DEG. In: Online-Ausgabe des Gemeindeblatts vom 17.07.2025 (https://www.evangelischekirche-denhaag.nl/b/petrified-survivors-mahnmal-im-garten-der-deg-191715). - 4. Sculpture | Victims of sexual violence | Erection date: 29/7/2019. In: Homepage von London Remembers, aufgerufen am 07.10.2025 (https://www.londonremembers.com/memorials/victims-of-sexual-violence). - 5. The Gurkha. In: Homepage des Gurkha Memorial Fund, Folkestone (https://gurkhamemorialfund.org.uk/the-memorial/), aufgerufen am 07.10.2025. - 6. Petrified Survivors: Sculpting Survival. In: Homepage des SASVIC e. V., aufgerufen am 07.10.2025 (https://sasvic.org/work/petrified-survivors-de/). - 7. Marina Mai: Ein schwacher Trost. In: Online-Ausgabe der „tageszeitung“ vom 9.9.2025 (https://taz.de/Denkmal-in-Wedding-eingeweiht/!6109193&s=rebecca%2Bhawkins/). - 8. Sven Hansen: Konkurrenz für die Friedensstatue. In: Online-Ausgabe der „tageszeitung“ von 19.9.2024 (https://taz.de/Japan-Diplomatie-in-Berlin-Moabit/!6034406/). - 9. Jule Meier: Berliner Quereinstieg: Ex-Rüstungsprofi plant Friedensstatue. In: Online-Ausgabe von „ND/Der Tag“ vom 18.09.2024 (https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185265.erinnerungskultur-berliner-quereinstieg-ex-ruestungsprofi-plant-friedensstatue.html). - 10. Karl Müller: Das Buch der Pflanzenwelt. Botanische Reise um die Welt. I. Erstes Buch. Der Pflanzenstaat. Leipzig 1837. 

II. Bildnachweis: Alle Aufnahmen ohne Urheberangabe sind dem Bildarchiv des Autors entnommen.