6. Oktober 2025

GAR TRAURIGE GESCHICHTE


Von Wolfgang W. Timmler

 

Plötzlich fiel Schnee. Es waren dicke Flocken. Schwerelos schwebten sie durch die Luft. Rühmann sah nach oben. Der Himmel war wie Watte. Er fing ein paar Schneeflocken mit der Hand. Sie zergingen zu nichts.


„Du holst dir noch eine Grippe, Siegfried.“


Das Gesicht von Theres war hinter dem weißen Schleier kaum zu erkennen. Sie schüttete das Spülicht auf den Hof und stellte den Eimer auf die Veranda.


„Komm endlich rein.“


Er wartete, bis die Tür ins Schloss gefallen war. Der dunkle Zementboden verfärbte sich allmählich weiß. Die Kälte zwickte, und er ging ins Haus.


„Zieh gefälligst deine Schuhe aus. Ich habe gerade gewischt.“


Theres war in der Küche und hörte das Wunschkonzert im Radio. Eine Frauenstimme sagte, dass Conny, Hans und Peter dem lieben Rudi zum Geburtstag alles Gute wünschten. Siegfried Rühmann ging zum Herd und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Der Kaffee war bitter und schmeckte nach verbranntem Gummi. Theres saß am Küchentisch und trank Kaffee. Sie war eine kleine korpulente Frau mit dickem, glänzend schwarzem Haar und breiten Hüften. Sie trug eine weiße Kittelschürze, die Arme und Knie freiließ und am Rücken feucht war, als habe jemand Wasser darauf verschüttet. Schwarze Haarbüschel standen aus den Achselhöhlen hervor und verströmten einen Geruch von Schweiß und billigem Parfüm. Im Radio grüßten Paula und Moritz die liebe Mama und den lieben Papa. Theres begann heftig zu atmen. Rühmann stellte seine Tasse in den Ausguss und ging nach oben.


Esthers Tür schloss nicht richtig, und er hörte Theres in der Küche laut mit sich reden. Esthers Zimmer war aufgeräumt wie ein Museum. Er bückte sich und zog unter dem Bett eine Schachtel hervor. Der graue Pappkarton war an den Seiten eingerissen und mit Tesafilm geflickt. Außer der Schachtel mit den Kinderbüchern hatte Esther alles mitgenommen. Er setzte sich aufs Bett und schlug den „Struwwelpeter“ auf. Er zündete sich eine Zigarre an und betrachtete die Bilder. Beim feurigen Paulinchen umgab eine schmale Furche die Figur, seitdem Esther die Konturen mit einem Kugelschreiber auf Transparentpapier durchgepaust hatte. Rühmann strich mit dem Zeigefinger über den leicht vergilbten Karton des Bilderbuchs. Nie war er seiner Tochter näher gewesen als jetzt.


Mit erhobenen Pfoten klagten die Katzen Minz und Maunz. Gelbrot züngelten die Flammen aus Paulinchens Rücken und leckten an der eisgrauen Wolke hinter ihr. Als Esther die Bilderfolge zum ersten Mal betrachtet hatte, waren ihr die Flammenzungen wie Federn vorgekommen, und in ihrer Phantasie wurde aus Paulinchen eine Indianerin, die vor den beiden Katzen einen Freudentanz aufführte, dessen Anlass sich Esther aber nicht wirklich erklären konnte, wie sehr sie ihren kleinen Lockenkopf auch anstrengte. Esther sah, was sie sehen wollte und duldete keinen Widerspruch, und wer es wagte, gleichgültig, ob schon erwachsen oder ebenso alt wie sie, wer auch immer es sich also herausnahm, darin keinen Freudentanz zu sehen, wurde mit einem bösen Blick und schluchzendem Schweigen von ihr bestraft.


„Miau! Mio! Wo sind die armen Eltern? Wo?“


Dass eine Gebärde auch eine Art kleine Rede sein konnte und Paulinchen in Wahrheit eine Tochter des Jakob in der Bibel war und die erhobenen Arme eine Chiffre für die weibliche Wehklage über den Tod ihres Bruders Joseph darstellte, das alles fand Esther erst heraus, als sie die Bilderbücher von Hoffmann und Busch mit den Bildbänden von Museen und Galerien vertauscht hatte, doch allzu lange sollte sich Esther nicht an ihrer Entdeckung erfreuen können. Sogleich traten andere Entdeckerinnen auf den Plan. Um Esther bloßzustellen, streute ihre beste Freundin in der Klasse das Gerücht, das Bildzitat lange vor Esther entdeckt und in Gesprächen mit Esther wiederholt erwähnt zu haben. Auf diese Weise konnte es ihrer Freundin schließlich auch gelingen, sich die Autorschaft für die Entdeckung anzueignen und sich eine bessere Note in Bildender Kunst zu erschleichen.


Derartige Diebereien standen leider allen bevor, die hierzulande eine Höhere Schule oder Universität besuchten, dachte Rühmann, während er weiterblätterte. Zum Glück hatte sich Esther nicht von der Bildenden Kunst abbringen lassen und bloß ihrer besten Freundin und deren Clique für alle Zeit den Rücken gekehrt. Später sah Esther Paulinchens Figur auf einem Schlachtengemälde aus dem alten England wieder und erinnerte sich an einen Vers, den ihr Vater immer im Munde führte, wenn er eine Schülerin beim Abschreiben ertappt hatte.


„Und jede nimmt und gibt zugleich und strömt und ruht.“


Hatte der Kollege Spörl nicht letzthin einen guten Vaterwitz erzählt? Wie ging der gleich noch mal? Ach, ja! Kommt ein Reporter zu Henrik Ibsen und fragt ihn, was er für sein bestes Stück halte. „Damit bringen Sie mich in Verlegenheit“, sagt Ibsen, „ich weiß bloß, welches mein schlechtestes ist.“ Die Tür geht auf, und eine junge Frau kommt mit einem Tablett herein. „Voilà“, sagt Ibsen, „aufs Stichwort! Darf ich vorstellen: Nora. Meine Tochter.“ Die junge Frau deckt den Kaffeetisch und geht wieder in die Küche. „Sie scherzen!“, sagt der Reporter, „so schlecht finde ich Ihre Nora gar nicht.“ Ibsen schüttelt den Kopf. „Es heißt, Nora sei gar nicht von mir.“ Darauf der Reporter: „Oh! Das tut mir aber leid. Das wusste ich nicht.“ Darauf Ibsen: „Das braucht Ihnen nicht leid zu tun. Sie können ja nichts dafür, hoffe ich, - und ich auch nicht.“


Rühmann wusste, Ibsen hatte keine Tochter gehabt, nur einen Sohn. Dennoch zündete der Witz, und Rühmanns Lippen verformten sich zu einem bübischen Grinsen, als er den „Struwwelpeter“ zurücklegte und die Schachtel auf ihren alten Platz stellte. Er drückte die halbgerauchte Zigarre gegen das kaputte Türschloss und lauschte. Unten war es still geworden. Theres hatte wohl das Radio abgestellt.


„Ich fahre in die Stadt.“


Theres lag auf dem Sofa. Sie schien zu schlafen. Eine Flasche Wein stand neben ihr auf dem Boden und war fast leer.


„Wo gehst du hin?“


Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und ordnete ihr Haar. Sie war betrunken, und Rühmann konnte sehen, dass sie geweint hatte.


„Ich fahre in die Stadt. Ich habe keine Zigarren mehr.“

„Ich glaube, ich habe noch Zigaretten.“


Sie wollte aufstehen und stieß dabei gegen die Flasche. Etwas von der blutroten Flüssigkeit schwappte auf den Teppich. Rühmann packte die Flasche, als wäre sie ein Huhn, dem er den Hals umdrehen wollte und stellte sie zurück.


„Danke.“

„Keine Ursache.“


Sie setzte ihre Brille auf und starrte ihn aus großen Goldfischaugen an. Er sah zum Wohnzimmerfenster.


„Du weißt doch, ich rauche deine Marke nicht.“


Er ging in die Diele und zog seine Jacke an. Theres kam ihm nach.


„Warum bleibst du nicht hier? Überall gibt es Glatteis, sagt das Radio.“

„Ich nehme den Bus. Bis gleich.“


Rektor Rühmann schlug den Kragen seiner Jacke nach oben und trat ins Freie. Der Zementboden am Gully war mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Und es schneite noch immer.



Illustration: Heinrich Hoffmann: Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug. In: Der Struwwelpeter, Frankfurt a. M. 1845 (hier: Das Struwwelpeter-Album. Aus Bilderbüchern des Dr. Heinrich Hoffmann. Frankfurt a. M. 1924. Seite 7). Die Figur des brennenden Paulinchen ist eine ergänzte Kopie der wehklagenden Jakobstochter auf dem Wandfresko „Jakobs Klage“ von Wilhelm Schadow für die Casa Bartholdy in Rom, 1816-1817, jetzt Alte Nationalgalerie in Berlin. Schadows Klageweib wiederum geht zurück auf das um 1782/1784 entstandene Ölgemälde „Der Tod Major Peirsons“ von John Singleton Copley, jetzt Tate Gallery in London.