STERNGUCKER

Von Wolfgang W. Timmler
Die späte Nachmittagssonne malte blasse Muster auf die Kacheln im Flur. Zum Glück wohnte Mustafa nicht im siebten Stock. Das Haus hatte nämlich keinen Fahrstuhl. Der Stumme Portier sagte Henri, dass es Eigentum der Eisenbahnsiedlungsgesellschaft sei, und jetzt vernahm Henri auch in der Ferne die Geräusche vom Bahnhof. Eine Diesellok rangierte und kuppelte Waggons zusammen.
Henri klingelte im dritten Stock. Mustafa öffnete die Tür. Er trug verwaschene Jogginghosen, und das T-Shirt, das er anhatte, spannte etwas auf dem Bauch. Um Mustafas Halbglatze rankte sich lichtes Haar, das kurz geschnitten war. Sein Schnurrbart war grau wie das Haar, als ob der Durst nach Wissen ihm alle Farbe ausgesogen hätte. Mustafa bat seinen Kommilitonen herein.
In der Diele stolperte Henri über ein schmutziges Paar Arbeitsschuhe. Das Zimmer wirkte aufgeräumt, hell und freundlich, aber die Misere war unübersehbar. Teure Sachen waren hier nicht zu finden. Der Computer hatte nicht viel gekostet, und die Programme waren echte Raubkopien. Der Fernseher war an und meldete gerade neue Katastrophen. Geschah auf der Welt irgendwo ein Unglück, schickte die Tagesschau sofort einen Kameramann dorthin. Für Henri steckte dahinter magisches Denken. Durch seinen Blick sollte der Kameramann das Leid der Welt heilen helfen.
Zum Hof hin stand das Fenster einen Spalt weit auf. Hin und wieder war lautes Kinderlachen zu hören, das Henri an wassergefüllte Luftballons erinnerte, die auf dem Asphalt zerplatzten. Ein Foto über der Couch zeigte Mustafa, als er noch dunkles Haar hatte, und daneben hing ein islamischer Wandteppich mit einem Spruch des Propheten.
"Ein Geschenk", sagte Mustafa und stellte den Fernseher ab. "Ich gehe nicht in die Moschee."
Eine Wand des Arbeitszimmers nahm ein riesiger Bücherschrank ein, auf dem Umzugskartons standen. Sie waren bis zum Rand mit Schulbüchern gefüllt, Ausschussware der Rechtschreibreform, unzählige aussortierte Lehrbücher über Biologie, Chemie, Deutsch, Erdkunde, Physik. Die Bücher hatten kein großes Vermögen gekostet, doch die Sammlung war unvollständig, eine Investitionsruine, nachdem ihm ein Landsmann klargemacht hatte, dass kein Schüler in Persien - und sei er noch so begabt - etwas aus deutschen Schulbüchern lernen könne. In allem, was Mustafa unternahm, schien er irgendwo zwischen Anfang und Ende stehen zu bleiben. Zwischen den gläsernen Schiebetüren des Bücherschranks steckte die Laserkopie einer Blondine mit riesigen Brüsten, die Hungerfantasie eines Junggesellen. Dahinter stapelten sich Mappen und Ordner, vollgestopft mit dem Unterrichtsstoff, den er wie ein Brechmittel zu sich genommen hatte, um ihn auf Papier wieder auszuscheiden.
Mustafa war nicht mit Träumen hierhergekommen. Jedenfalls hatte er nicht zu viel erwartet. Er wollte drei Jahre hier studieren und dann nach Hause zurückkehren, aber aus den drei Jahren waren dreizehn geworden. Mustafa hatte sich vieles einfacher vorgestellt und nicht mit solchen Schwierigkeiten gerechnet. Um das Studium zu finanzieren, arbeitete er als Möbelpacker, aber wie lange konnte ein Student der Psychologie erinnerungsschwere Kommoden und Kanapees schleppen?
"Ja, das Alter ist wirklich ein Problem. Ich bin siebenunddreißig und fühle mich nicht alt, aber letzthin hat mich eine Studentin gefragt, wann ich auf Rente gehe. Ich war total sauer auf sie."
Dreizehn Jahre war Mustafa jetzt hier, und die Islamische Republik Iran war dreizehn Jahre weit weg von ihm. Er wusste nicht, was aus ihm werden würde, wenn er jetzt dorthin zurückkehrte, weil er nicht mehr wusste, was es hieß, dort zu leben, während er hier mehr oder weniger in der Luft schwebte.
"Mein Hobby", sagte Mustafa und wies auf den Couchtisch, der übersät war mit Zetteln in allen Formaten und Farben, vollgekritzelt mit Ziffern und Zeichen, die neuesten Zeugnisse seiner Sammelwut.
Während er in den Papierschnipseln auf dem Tisch wühlte, schienen sich seine Hände in schmale behaarte Ungeheuer zu verwandeln. Schließlich zog er unter den Papieren einen zusammengefalteten Zeitungsartikel hervor, in dem umständlich erklärt wurde, wie eine griechische Musiklehrerin mit einem Amateurfernrohr den Kometen Letho 19 entdeckt hatte.
"Der nächste Komet heißt nach mir, Mustafa Fars", sagte er und faltete das vergilbte Blatt Papier rasch wieder zusammen, als er merkte, dass sich seine Wangen rot zu verfärben begannen.
Mustafa war ein Sterngucker ohne Teleskop. Im Internet hatte er Satellitenaufnahmen der Sonne gesehen und gleich erkannt, sie waren die Schatzkarten, die ihn zu neuen Kometen im Weltall führen konnten. Alles, was er bei der Suche brauchte, waren Geduld und Elektrizität. Außerdem musste er bei der Schatzsuche die Zeit mit keinem außer sich selbst teilen. Seine Bachelorarbeit in Psychologie hatte er als Konzept inzwischen schon fast fertig, doch nun stand er kurz davor, das Manuskript im Kampf gegen das Textverarbeitungsprogramm zu verlieren.
"Ich habe einen neuen Computer. Hast du schon gesehen?"
"Nein."
"Mein letzter hatte eine Macke, aber der neue hat noch mehr Macken. Zum Beispiel: Ich schreibe, und jeder Satz mit Es - wie heißt das grammatikalisch? Substantiv?"
"Personalpronomen."
"Personalpronomen. Es ist ein Personalpronomen?"
"Was ist damit?"
"Jedes Mal verwandelt sich das große E in ein kleines e."
"Das ist so eingestellt im Programm."
"Ja, das habe ich auch herausgefunden. Wie heißt das?"
"Automatische Korrektur."
"Ja, genau, automatische Korrektur."
"Die lässt sich abstellen."
"Das habe ich auch gemacht, und eine Zeit lang ging es, aber jetzt kommt es wieder."
"Dann hast du sie versehentlich wieder eingeschaltet."
"Meinst du?"
"Du musst sie wieder ausschalten."
"Hör mal! Ich bin doch nicht Sklave des Programms. Ich muss arbeiten. Ich muss meine Bachelorarbeit schreiben."
"Während du tippst, stellt sich das um?"
"Nein. Ich schreibe, und alles ist normal, und nach einer Weile kommt es wieder. Das geht doch nicht! Wo bleibt denn da die Logik?"
"Du hast einfach die automatische Korrektur nicht richtig abgestellt - logisch, oder?"
"Hör mal! Ich kann ganz gut mit meinen Fehlern leben. Ich muss sogar mit ihnen leben, aber wenn ich einen Computer habe, dann will ich auch, dass er funktioniert."
Henri zeigte ihm, wie sich die automatische Korrektur dauerhaft abstellen ließ.
"Unser Prophet hat gesagt, wenn mir jemand etwas beibringt, werde ich sein Sklave", klagte Mustafa.
Mit einem Seufzer schaltete er seinen Computer aus. Sie tranken süßen Schwarztee ohne Milch und sprachen über das Studium.
"Du meinst, wegen Hitler fürchten sich die Leute hier vor dem Unbekannten? Ich bin mir sicher, die meisten Leute hier haben keine Ahnung von Geschichte, und mit dem Unbekannten kennen sie sich ebenso wenig aus. Woher also nehmen sie die Gewissheit, es müsse fürchterlich sein? Das verstehe ich nicht. Das Unbekannte ist doch nicht Hitlers Geist, der nachts umgeht wie ein Gespenst und sie erschreckt."
"Umso besser."
"Du verstehst das?"
"Ich verstehe das auch nicht, aber es ist nicht wichtig, ob ich das verstehe oder nicht, Henri, darauf kommt es nicht an. Du musst so tun, als ob, auch wenn du es nicht verstehst. Trotzdem könnte ich dir auf der Stelle hier einen Vortrag über Fremdenfeindlichkeit halten."
"Ich denke, du verstehst das nicht."
"Richtig, darum geht es."
"Hitler nicht zu verstehen?"
"Du kannst Hitler nicht verstehen. Trotzdem darfst du dich von Hitler nicht erschrecken lassen. Du musst dir einen kühlen Kopf bewahren - so sagen doch die Leute hier? An der Uni habe ich gelernt, ruhig zu bleiben, auch wenn ich nichts verstanden habe. Glaub mir, Henri, du wirst auch nicht alles verstehen. Das tut keiner. Du darfst es dir nur nicht anmerken lassen, sondern musst alles infrage stellen - zum Beispiel, wann werde ich endlich so weit sein, etwas zu wissen, wenn ich solche alten Sachen wie das Es noch lernen muss?"
Als Henri später die Treppe hinunterstieg, hörte er wieder die Geräusche vom Bahnhof, das Trommeln der Lokomotive, den Gleichschritt der Waggons. Er stellte sich vor, wie der Zug über die Schienen rollte, ein träger Tausendfüßler, der sich im glitzernden Geflecht der Gleise verfangen hatte.