Früher oder später werde ich nur noch ein Text sein

In der Tat, von Jorge Barón Biza bleibt dieser Text, Die Wüste und ihr Samen. Eines der mit Sicherheit bizarrsten Bücher, die jemals geschrieben – und veröffentlicht wurden! Der Selbstmörder, Trinker, Korrekturleser Biza, das erfahren wir unter anderem im Nachwort von Alan Pauls, kommt aus einer Familie von Selbstmörder:innen, Trinkern, bourgeoisen Toxikern, Politiker:innen. Er ist auf der Flucht („ich vermisste die Steaks aus meiner Heimat“) vor etwas, dem nicht zu entfliehen ist, dem Spiegel. Auf einer stationsreichen Tour, im Leben, von Argentinien aus über die Schweiz, Deutschland, Uruguay, Italien, springt der Journalist ohne Themen, „Narben der Vernunft“, nach Vollendung dieses Romans, der im Grunde die Biografie zum Thema hat, aus dem Fenster, steht nicht mehr auf. Zuvor tat dies seine Mutter, die wiederum um einiges früher von ihrem Mann, Bizas Vater, Säure beim Scheidungstermin ins Gesicht bekam. Kurz darauf erschießt sich dieser Vater. Wie angedeutet, aufrollt der Roman all das, er deutet nichts. Ja, selbst die Haltung seines Autors, des Sohns, der alles mitbekommt, ansieht, bleibt völlig unklar. Beziehungsweise sie ist im Buch eben „die Wüste und ihr Samen“ – auch der Sohn verstümmelt zu Ende einer Frau das Gesicht. „Dass ich daran scheitere, ihn zu verstehen“, schreibt er, der sich dem Alkohol hingibt, der es schafft, im Krankenhaus das gerade transplantierte Gesicht der Mutter bei der Fütterung mit heißer Suppe zu übergießen.
Obwohl dünn für einen Roman, steckt derart viel Unabgeschlossenes darin, die Hirnrinde möchte sich kräuseln. Die Toxik-Problematik ist greifbar, nur nicht für den Protagonisten, dessen Schilderungshaltung (als Autor) ebenfalls zum Haareaufstellen ist. Die Veränderungen im verätzten Gesicht traumatisieren beim Lesen, wie jeder solche Akt selbst – zu großen Teilen ist der Roman, ob beabsichtigt oder nicht, der reine Splatter. Kombiniert mit den sehr gelungenen Schilderungen aus einem nebligen Mailand, dem Hauptteil des Romans, worin Mutter und Sohn, im Krankenhaus leben, würde die Stimmung als Giallo durchgehen. „Ich drehte die Flasche auf, nahm einen Schluck und steckte sie in meinen Mantel. Wir kamen in eine Gegend mit Gebäuden aus dem vorigen Jahrhundert, die nach Kräften, aber mit unzureichenden Mitteln die Pracht der Renaissance nachahmten. Ich weiß nicht, wer von uns beiden sich davonstahl, aber ein paar Minuten später lief ich allein und verloren umher.“ Danach wird es zu noch bizarrerem Roadmovie mit einer frühen Form des Interrail, das der Sohn betreibt, sich jeden Tag abwechselnd im Norden und Süden Italiens aufhält, um im Zug zu schlafen und zu trinken. Die Leere ist selten so saftig aufgetreten. Trotz der dürren Handlung, die eben dennoch mächtig wirkt, ist der Roman abstruserweise seitenlang durchbrochen von Fremdmaterial: Erzählungen, Stimmen, Legenden, deren vollendete Willkür ihresgleichen sucht. Zuoberst ins Gewicht fällt, beinahe alle Dialoge sind durch eine absichtlich fehlerhafte Sprache, hauptsächlich (angenommen) „italianisiertes“ Deutsch (Frank Wegner übersetzt aus dem italogermanischen Spanischen), das praktisch alle sprechen außer der spiegelmeidende Protagonist, was an Herablassung grenzt, wenn es nicht eine ebensolche Konsequenz, will sagen totale Verzweiflung des Schreibwillens bedeuten würde. Das macht die misogyne Leseerfahrung nicht leichter. Biza nennt es cocoliche, es ätzt sich ebenso ein, wie die hundsgemeine Tat – realer als real leider. So ist Die Wüste und ihr Samen nur mit Vorsicht zu genießen, wenn nicht mit mehr als nur einer Triggerwarnung. Rettet die Ehrlichkeit (spekulativ, natürlich) dieses Schreibens über eine Realität die Fortpflanzung fiesester und auch beim Lesen wirkender Mittel? Selber lesen und/ oder Abbrechen. Sprachlich ist der Text in jedem Fall außerordentlich, um nicht zu sagen plastisch, „die Verwandlung von Fleisch in Felsen“, wie voll herausragender Stellen. Politisch: „Einige dieser Erlöser tauchten nach ihren Jahren der Macht leibhaftig in unseren Kneipen auf, mit erloschenem Blick, in dem nur dann etwas aufflackerte, wenn sie von ihrer ruhmreichen Vergangenheit faselten.“ Knapp: „Sie legte irgendeine schmalzige Musik auf, und wir setzten uns auf den Boden, Rücken an Rücken.“ Schlichtweg: „Sie lachte so freiheraus, dass ich, davon angesteckt, ebenfalls lachen musste. Dabei kam mir das Kotzen, mir, der ich stolz darauf war, dass mir solche feuchten Missgeschicke nie passierten. Ich lachte und kotzte in gleichmäßigem Wechsel: ein paar kräftige Lacher und dann drei oder vier Schübe, die aus meinem neptunischen Mund schossen. Mir fiel auf, dass sich die einzelnen Schübe und die Lacher genau die Waage hielten, ohne dass ich das beabsichtigt hätte.“ Im Original erschien dieses Festmahl der Absonderlichkeit 1998. Zum Glück scheint es der einzige Vertreter seiner Schule, als die es, mit der ihm eingewobenen Lebensperformance in echt – dessen von dem es spricht – einen eigenen Abschluss gesucht hat, der trotz allem aber eben nicht Teil des Buchs ist. „Ich komme aus einem Land, das nicht zu greifen ist, das aus Stoffen gemacht ist, die sich, sobald man ihnen den Rücken kehrt, in Traum und Fragwürdigkeit auflösen.“
Jonis Hartmann
Jorge Barón Biza: Die Wüste und ihr Samen, Suhrkamp 2025