Die stets etwas ausweichende Natur der Sprache

Vor Fernanda Melchors Romanerfolgen schrieb sie halbjournalistische Crónicas, die sich in & um die Stadt Veracruz abspielten. Man geht nicht fehl, den grimmigen Realismus ihrer Romane hier bereits in voller Blüte zu sehen, zu lesen. Zwischen 2002 und 2011 verfasst, schreibt die Autorin: „[die Stadt], sie kann nicht selbst von sich erzählen, sie kann überhaupt nichts erzählen“ – „Teil einer Kultur, die das Geschriebene verachtet, die kein Archiv kennt und das mündliche Zeugnis vorzieht, den dramatischen Bericht, den beglückenden Akt des Sprechens.“ Nach dem Motto „Manchmal braucht sogar der Teufel ein Gebet“, verstricken sich die Protagonist*innen in grotesken Situationen, die aus einem Blickwinkel von unten Licht hinter städtische Vorgänge bringen, darin immer wieder unterbrochen von noch groteskeren Lebensaussichten, noch tieferen Blickwinkeln, noch bossigeren Bossen. Die Erzählungen wechseln sich gekonnt in Tonfall, Länge, Komposition ab. Manchmal interviewartig, innerhalb der Erzählstimme wie eine ganz ausgereifte Kinoshlock-Ware (Das Haus am Estero), „eine dicke Schicht fauliger Blätter bedeckte die Fußböden“. Der präsente Hafen mit seinen (Un-)Möglichkeiten, die beim Schmuggel von einem Migrationsversuch unterbrochene Schauerleute-Routine mit „Wie weit ist es noch bis Miami?“ aus der Titelerzählung, schwer zu verdauen. Der Fall einer Ex-Karnevalskönigin, die vor Gericht, trotz abstrusester Taten „in jedem Moment im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gewesen sei“.
Melchors lakonischer Stil schafft es, ohne jede Flapsigkeit, in Bildern zu erzählen. Ihr gelingt es, journalistische Tugenden mit literarischem Blick zu verknüpfen. Das hier ist nicht Miami ist ein ziemlicher Hammer, trotz seines originalen Alters. Übersetzerin Angelica Ammar findet ein Deutsch, das nicht ausgleitet oder bewusste Klischees zu vermeiden gewillt wäre. Fernanda Melchor schreibt, wie es ist, es liest sich nah & fern zugleich, geht unter die Haut, andere würden vielleicht von einer condition humaine sprechen, das Wesentliche sind aber die namentlich benannten Menschen, die diese Leben, Versuche zu leben, offensichtlich führen, es versucht haben. Melchor belichtet sie, ohne ihnen zu nahe zu treten, zwischen den Zeilen bleibt Raum für Anteilnahme. Es ist kein Abhaken, kein Sensationheischen. Einfach so: „Ich war vierundzwanzig. Die bis dahin schlimmste Geschichte in meinem Leben hatte sich ein Jahr zuvor zugetragen: der Streit mit meinem Vater, bevor ich endgültig bei ihm zu Hause ausgezogen war. Das war 2005, und wir beide waren allein zurückgeblieben: Julio studierte in Ensenada und Mama ... na ja, sagen wir mal, Mama war für unbestimmte Zeit im Urlaub im Norden des Landes, von wo aus sie gelegentlich anrief, um über Dinge zu sprechen, die immer weniger Sinn ergaben. Papa hatte ihre Sachen längst entsorgt, ihre Kleider, ihren Papierkram, ihre Parfüms. Eines Tages hatte er einfach alles in ein paar schwarze Müllsäcke gepackt und auf die Straße gestellt. Seither hatte er nicht mehr mit Feiern aufgehört, und ich musste mir einen Job suchen, damit ich was zu essen hatte und fertig studieren konnte.“ Hieraus wird Das Haus am Estero, wie bereits erwähnt eine stimmungsstarke Bild-im-Bild Kino-Hommage. Oder Alltag in einer „Firma“, die „Läden“ mit aufbereitetem Stoff versorgt, in Ein guter Mensch: „Nach Schichtende konnte der Fito sich entspannen oder sogar schlafen, oder mit anderen Monteuren an der Konsole spielen. Außer ihrem Job hatten sie nichts zu tun. Man schickte ihnen eine Putzfrau und eine Köchin, die ihnen zu essen machte.“ Das hier ist nicht Miami zeigt einiges auf, ganz sicher, wie packendes, durchlässiges Erzählen heute funktionieren kann.
Jonis Hartmann
Fernanda Melchor: Das hier ist nicht Miami, Wagenbach 2025