25. August 2025

NEUSCHNEE

 

 

Von Wolfgang W. Timmler

 

 

Mein Vorname ist ein Versprechen. Ich heiße nämlich wie der alte Heine. Und wie beim alten Monsieur Rien tun sich viele Leute schwer mit meinem Nachnamen. Sie verbinden die merkwürdigsten Sachen damit, zum Beispiel Lametta oder Zwölf-Uhr-Mittag, was mich nicht weiter stört, solange die Leute gedanklich nicht falsch abbiegen, zum Beispiel nach Neufünfland zu den anderen Doofen. Am meisten ärgere ich mich über die Volksdoofen, und Heine hätte sie auch nicht lustig gefunden, sonst wäre er nicht nach Paris gegangen. Ich glaube, dort hat er sich auch den Herrn Nichts ausgedacht. Von seiner Geliebten ist er bestimmt niemals so angesprochen worden, geschweige denn von einem Fremden. Mit dem hätte er sich duellieren müssen, weil eine solche Anrede damals eine tödliche Beleidigung gewesen wäre. Ich kann mir gut vorstellen, wie sich der alte Heine eines Morgens rasiert und zu sich selbst im Spiegel gesagt hat: „Werter Monsieur Rien, lieber verliere ich meinen besten Freund als einen guten Witz.“ Sein bester Freund in Paris ist er aber selber gewesen. „Den Verlust kann ich gerade noch verschmerzen“, hat er ganz gerührt seinem Spiegelbild erklärt und sich dabei eine Lachträne aus dem Auge gewischt. Solche Witze über sich selbst machen zu können, finde ich göttlich. Ich könnte das nicht, jedenfalls jetzt noch nicht, weil ich im Augenblick nicht abgeklärt genug für solche Sachen bin.


Henri ist ein alter Name und bedeutet so viel wie Herr. Das haben meine Eltern jedoch nicht wissen können, als sie den Namen für mich ausgewählt haben. Für sie hörte er sich irgendwie europäisch an, und eine helle Silbe am Schluss hatte für sie mehr Bedeutung als irgendein dunkler Sinn am Ende. Jedenfalls haben meine Eltern gewusst, was sie tun. Sie haben sich ganz bewusst für Henri entschieden, weil sie dachten, ich würde hier aufwachsen, und auf diese Weise wollten sie sich auch vorsehen, weil sie insgeheim schon geahnt hatten, unser Familienname würde hier vielleicht Missverständnisse auslösen, nur was für welche hätten sie sich niemals träumen lassen. Lemoetac klingt ja nicht nur sehr geheimnisvoll, Lemoetac steckt auch voller Rätsel. Selbst das Internet, von dem viele behaupten, dort sei alles zu finden, selbst dieser Eselsbrückenkatalog muss bei Lemoetac passen, doch anstatt einmal ehrlich zuzugeben, kein bisschen klüger zu sein als ein gedrucktes Lexikon, behauptet der elektronische Bibliothekar keck, das Wort sei falsch geschrieben und das Chanson eines toten französischen Liedermachers damit gemeint. Den Liedermacher kennt hier aber keiner mehr. Nicht einmal dem früheren Fremdenlegionär im dritten Stock sagt der Name etwas, und der einarmige Veteran kennt verflucht viele Chansons, wenn er betrunken ist.


Maman sagt, der Mensch gewöhne sich an alles, was aber so nicht stimmt. Der Mensch gewöhnt sich bloß an eines, an das Nichts. Was anderes bleibt ihm auch gar nicht übrig. Das Nichts verfolgt ihn ein Leben lang wie ein starker Schatten, und am Ende holt es ihn ein, ob ihm das nun passt oder nicht. Woher ich das weiß? Ich kann lesen und mich in andere Leute hineinversetzen. Ich kann erkennen, was andere fühlen, und ich kann verstehen, wie sie denken, dennoch werde ich mich an Unsinn niemals gewöhnen können. Die Welt durch eine Brille zu betrachten, lässt die Leute vergessen, wie schlecht sie die Welt an und für sich sehen, und wenn ich solche Leute sagen höre, hier bei uns heiße keiner Lemoetac, bin ich gewarnt und weiß, gleich wird hier wieder etwas schrecklich schieflaufen, wofür ich aber nichts kann. Am Anfang hat es in der Schule deswegen auch viele blaue Flecken gegeben, doch mich trifft keine Schuld und meine Eltern ebenso wenig. Sie haben es bloß gut gemeint und auf das Beste gehofft, als sie aus Afrika fortgegangen sind.


Im Grunde ist es unwichtig, welches Ziel sich jemand setzt, wichtig ist doch, überhaupt ein Ziel zu haben, wobei das Ziel jedoch erreichbar sein muss, sonst ist es bloße Zeitverschwendung. Meine Eltern haben sich ihr Ziel hier gesetzt, und sie haben schon gewusst, die Wege sind überall lang und steinig, hier wie dort, dennoch fahren sie hier wenigstens eine gestrichelte und keine durchgezogene Linie entlang. Manchmal werden sie überholt, manchmal überholen sie andere, doch sie schauen nie in den Rückspiegel. Ihr Blick ist stur nach vorn gerichtet. Vielleicht erreichen sie nie, wonach sie greifen wollen, weil ihre Arme zu kurz sind, dennoch haben sie es versucht und nicht gleich aufgegeben, als sie merkten, hier ist vieles doch nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt haben, aber wer weiß, vielleicht habe ich mehr Glück und kann ihr Versprechen einlösen.


Mit Maman spreche ich zuhause deutsch, wenn wir beide allein sind, damit sie die Sprache ein bisschen üben kann. Ich fühle mich nicht wohl in der Rolle, den Lehrer zu spielen, weil ich Lehrer im Allgemeinen und Mathematiklehrer im Besonderen wie Studienrat Spörl seit drei Geraden nicht mehr ausstehen kann. Außerdem bin ich ihr Kind und werde immer ihr Kind bleiben, egal, wie alt ich auch sein werde, dennoch habe ich keine andere Wahl. Auf der Arbeit wird sie die Sprache niemals richtig lernen. Ihre Kolleginnen sind aus Albanien, Rumänien, der Türkei; nur ihre Chefin kommt aus Bayern.


„Dort sprechen sie auch deutsch, Maman.“

„Non.“

„Wenn ich es dir doch sage.“

„Ah non! Die Chefin spricht nischd deutsch!„


Mit Papa unterhalte ich mich fast nie auf Deutsch. Er kann die Sprache schon ganz gut, dennoch will er sie zuhause nicht hören, um wieder klar denken zu können, wie er sagt. Also lasse ich die deutsche Sprache möglichst vor der Haustür, wenn Papa daheim ist, aber was kann ich dafür, wenn es meinem Freund Schantz plötzlich in den Sinn kommt, mich zuhause zu besuchen? Als ich Schantz meinen Eltern vorgestellt habe, fragt ihn Papa, was er denn später einmal werden wolle. Außer Champagner versteht Schantz kein Wort Französisch, also muss ich ihm die Frage übersetzen. Dabei zwinkere ich ihm zu, um anzudeuten, was ich von der lächerlichen Komödie halte, welche Papa gerade aufzuführen versucht.


„Influencer.“

„Pardon?„

„Keine Sorge, Herr Lemoetac! Das ist nicht ansteckend.“


Als wäre es nicht längst vergangen, sondern geschähe in diesem Augenblick, in dem ich es schildere, also genau jetzt sehe ich wieder das Gesicht meines Freundes vor mir, das sich im Bruchteil einer Sekunde fieberrot verfärbt, und wieder fühle ich mein Herz heftiger schlagen und wieder eine Lachrakete in mir aufsteigen, während Papa mich wieder streng von der Seite anzublicken scheint.


„Schantz! Du bist so ein Rhinozeros!„


Mein Freund und ich haben viel gemeinsam, und trotzdem stimmen wir in vielen Dingen nicht überein, ansonsten würden wir uns zu Tode langweilen und gewiss keine Freundschaft miteinander pflegen. Wir wissen beide, wir sind nicht gleich, und für uns ist es ganz normal, anders zu sein. Die Vielfalt tut uns allen gut und ist nicht verwerflich, wie die Dummköpfe glauben, die bloß mit sich selbst übereinstimmen wollen und mit niemandem sonst. Wir sind alle verschieden gestrickt. Das ist unsere Natur, und ohne sie säßen wir noch heute auf den Bäumen bei den anderen Affen. Schantz hat die erstaunliche Gabe, mich aufzuheitern, und darum habe ich ihn auch zum Freund gewählt.


Ich weiß, kein Mensch ist perfekt, sondern ein Vierfachknoten aus Geist, Gefühl, Geschlecht und Geschichte, und dennoch gehören meine Fehler mir allein und sonst keinem, und darum bereue ich grundsätzlich nichts. Niemals! Aus meinen Fehlern kann nämlich nur ich etwas lernen und niemand anders. Deshalb steckt ebenso viel Gutes wie Schlechtes in dem, was ich tue. Um mich zu verurteilen, müsste ich mich selbst genau sehen können, was jedoch nicht geht, weil ich mich selbst nicht von mir entfernen kann. Das können nur andere. In der Hinsicht bin ich so blind wie ein Maulwurf. Darum habe ich auch keine Ahnung, ob ich jetzt gerade am Anfang der schiefen Bahn stehe oder schon auf dem Weg nach unten bin, wie manche Lehrer meinen, dennoch fühle ich mich frei und genieße die Aussicht auf eine große Zukunft im Exil wie der alte Heine.


„Sieh an, sieh an! Henri, der Pessimist!„

„Anarchist!„

„Anarchist?„

„Ich glaube an den Zufall.“

„Und was machst du, wenn alles vorherbestimmt ist, Henri?„

„Der Zufall hält sich an keine Regeln, Schantz.“

„Dann bist du zufällig hier?„

„Nein, ich will es so.“

„Das ist Handlungsfreiheit, Henri, nicht Anarchismus.“

„Du meinst, wer bestimmt, was ich will und was nicht?„

„Genau.“

„Ich.“

„Du kannst tun, was du willst?„

„Meistens.“

„Anarchismus stelle ich mir anders vor.“

„Du bist ja auch ein Rhinozeros, Schantz!„


Das Licht wurde schwächer. Die Kälte lähmte die Batterien. Henri machte die Taschenlampe ein paarmal an und aus. Der Lichtstrahl quälte sich durchs Dunkel und streifte ein eckiges Ding, offenbar eine Kiste mit Streugut. Im Schein der Taschenlampe waren Fußspuren im Schnee zu erkennen. Sie verliefen quer über den Pausenhof und zeigten drei Linien in einem Kreis. Henri stapfte zurück zum Hoftor. Er knipste die Lampe aus und sah sich um. Im Dunkeln war die Schule nur eine formlose graue Masse. Er kletterte über das Gittertor und ließ sich in den Schnee fallen. Er war zufrieden. Wenn es in der Nacht nicht schneite, würde Studienrat Spörl morgen große Augen machen. Er klopfte den Schnee von den Stiefeln und schlich nach Hause.


„Morgen läßt er seinen Kopf hier“, sagte Malaika Lemoetac sieben Stunden später und presste ihre Lippen zusammen wie ein Feuerfalter die Flügel. Sie war einmal sehr hübsch gewesen und wollte nicht glauben, dass sie älter wurde. Sie hatte die Haare flammenrot gefärbt und trug enge Jeans, die auf den Schenkeln spannten, und ihre Beine waren ein Delta von Krampfadern. Sie saß ihrem Sohn am Küchentisch gegenüber und nahm einen Schluck Kaffee.

„Zum Glück sitzt der Kopf fest zwischen den Ohren“, erwiderte Henri schnippisch, während er sich die schwarzen Stiefel zuschnürte. Er sah nicht hin. Nichts war so alltäglich wie eine vergessene Lesebrille frühmorgens auf dem Küchentisch. Vor einer leeren Porzellantasse lagen die Plus-Anderthalb-Dioptrien seines Vaters auf einem Wimmelbildprospekt des Supermarkts und starrten doppeldeutig zur Zimmerdecke.

„Du bist verrückt, Henri!“, sagte Henris Mutter plötzlich, die ihm eine Zeitlang schweigend zugeschaut hatte. „Lacet rot und Stiefel schwarz!“, empörte sie sich.

„Das heißt rote Schnürsenkel, Maman, nicht Lasso!“, verbesserte Henri sie mit leiser, gedämpfter Stimme, ohne aufzublicken. Schließlich hatte Henri beide Knoten fest gebunden und ging zum Flur, wo er in den dunkelblauen Mantel mit Kapuze schlüpfte und sich seine feldgraue Schultasche über die Schulter hängte.

„Rot und Schwarz ist mein Lieblingsbuch, Maman“, sagte er und verabschiedete sich.

„Pardon?“, hörte er seine Mutter noch sagen, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.


Es war kurz nach sieben, als Schantz lange vor Unterrichtsbeginn die Schule betrat. Er ahnte, dass Henri keine Dummheit auslassen würde, um sich an Studienrat Spörl für die Sechs in Mathematik zu rächen. Auf der Treppe begegnete er Rektor Rühmann, der freundlich zurückgrüßte. Die Tür zum Klassenzimmer stand offen, aber es brannte kein Licht. Die Putzfrauen hatten die Stühle auf die Tische gestellt und die Heizung aufgedreht. Schantz öffnete ein Fenster. Kalte Luft schlug ihm entgegen. Es schneite, und auf dem Pausenhof waren frische Fußspuren im Schnee zu erkennen. Sie führten zum Gittertor, das mit Wintereinbruch wie der gesamte Hof wegen Dachlawinengefahr geschlossen worden war. Er lehnte sich aus dem Fenster. An manchen Stellen war in den Fußspuren das Pflaster zu erkennen. Weiß. Schwarz. Hell. Dunkel. Der Code der Polygraphie. Die Zeichnung im Schnee zeigte den ersten Buchstaben des Alphabets, eingefügt in einen Kreis, dessen Botschaft jedoch bald unter dem Neuschnee begraben sein würde. Ordnung ohne Herrschaft duldete der Winter nicht.


Schantz lief auf den Hof und bemühte sich, genau in die Fußabdrücke zu treten. Sie waren nicht größer als seine eigenen. Er folgte den Spuren im Schnee und gelangte zu der Kiste mit Streugut, von der man den gesamten Pausenhof überblicken konnte. Weiße Flocken schwebten durch das Halbdunkel und fielen lautlos durch den Ring des Basketballkorbs, unter dem Henri stand. Schantz formte einen Schneeball und warf nach ihm, ohne ihn zu treffen. Henri hatte die Hände tief in den Manteltaschen vergraben und stampfte wütend im Schnee herum, ohne seinen Freund zu beachten.

„Dafür gibt's bestimmt Rektoratsarrest“, rief ihm Schantz zu und lief ins geheizte Klassenzimmer zurück, wo Rektor Rühmann bereits auf ihn wartete.


„Zumachen! Sofort!“, sagte der Schulleiter und deutete auf das offene Fenster.

Wie eine Verkehrsampel schaltete die Gesichtsfarbe von Schantz auf Rot. Mit einem Knall schlug er das Fenster zu und drehte den Griff mehrmals in die falsche Richtung, um Henri zu warnen.

„Und deinen Freund erwarte ich im Rektorat! Sofort!“, sagte der Schulleiter, dessen Stimme aus einem Nebelhorn zu kommen schien, das sich rasch näherte.

„Henri! Der Direx verlangt nach dir!“, rief Schantz in das Helldunkel hinein, als die Schritte des Schulleiters nicht mehr zu hören waren. Über dem Pausenhof führten die Schneeflocken jetzt einen lustigen Tanz auf, in dem nichts anhielt und wie Zuckerwatte herumgewirbelt wurde.

„Klaro!“, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm und ließ ihn zusammenzucken. Sie gehörte seinem Freund Henri, der etwas Weißes in der Hand hatte.

„Du! Du! Du! Bist so ein Rhinozeros“, stotterte Schantz, dem alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war.

„Ich. Ich. Ich. Weiß“, erwiderte Henri und holte aus. Schantz schloss die Augen und duckte sich. Der Schneeball verfehlte ihn knapp und prallte gegen den Fensterrahmen.

„Du Rhinozeros!“, schimpfte Schantz, als er wieder seine rosige Gesichtsfarbe besaß.


Später dann beobachtete sein Freund Henri durch das Fenster im Rektoratszimmer die Züge der Hochbahn, deren Gleise in einem weiten Bogen zwischen den Häusern verliefen. Lichter gingen an und verloschen wieder. Um diese Zeit kamen die Menschen aus den Häusern. Rektor Rühmann stand mit dem Rücken zum Fenster, das Gesicht ganz im Schatten. Während er Henri über missachtete Platzverbote und lebensgefährliche Dachlawinen belehrte, streifte das Irrlicht der Hochbahn einen Augenblick lang seine Hände. Henri sah die kurzen Bewegungen, mit denen der Rektor die Schnur des Rollos in Schlingen legte, dann zählte er wieder die Kakteen auf der Fensterbank. Henri zählte sie wieder und wieder, bis er in der Ferne eine Polizeisirene vernahm. Der Heulton schien rasch näher zu kommen, doch dann brach er plötzlich ab.


„Du bist also ein Anarchist?“, fragte Rektor Rühmann unvermittelt, als sei ihm eben ein Gedanke gekommen. „Das Ziel des Anarchisten ist die Ordnung ohne Herrschaft, doch wie diese Ordnung sein soll.“ Er beendete den Satz nicht, aber sein Gesichtsausdruck ließ erkennen, was er dachte. Es entstand eine Pause.

„War Michael Kohlhaas ein Anarchist? Was denkst du?“, wollte Rektor Rühmann plötzlich wissen.

Die Frage fand Henri so seltsam, dass er einen Augenblick lang verwirrt war. Er konnte sich nicht erklären, was Rektor Rühmann damit bezweckte. War es eine Fangfrage? Oder wollte er sein Wissen prüfen? Henri dachte angestrengt nach. Schweigen nützte ihm hier nichts. Es würde ihm sogar schaden. Dagegen standen seine Chancen Halbehalbe, wenn er nichts zugeben und alles abzustreiten würde. Mit dieser Taktik könnte er sich vielleicht retten, doch wovor? Wenn er das bloß wüsste. Henri fühlte sich mehr und mehr unwohl. Außerdem roch es im Rektoratszimmer übel nach Zigarrenqualm. Kein Sinn wirkte bei Henri so stark auf das Gemüt wie der Geruchssinn, und der kalte Tabakrauch setzte ihm langsam zu wie eine Folter.

„Eigentum ist Diebstahl“, fuhr Rektor Rühmann fort, ohne Henris Antwort abzuwarten. „Das zeigt die Novelle.“ Das Telefonklingeln unterbrach ihn. Rektor Rühmann nahm den Hörer ab. Seine Frau Betty war am Apparat. Augenblicklich wurde Henri gleichermaßen unverhofft wie unverdient mit einem süßlichen Lächeln beschenkt.

„Du kannst gehen, Lemoetac. Wir sprechen uns morgen Punkt acht!“, sagte Rektor Rühmann, während er sich rasch etwas notierte.


Ich weiß sehr wohl, viele Kollegen sind nicht meiner Meinung, und ich habe dagegen nichts einzuwenden. Mir steht es auch nicht zu, hier über andere Fälle zu berichten, sondern nur über meinen eigenen, über den ich aber genauer im Bilde bin als die Kollegen, von denen übrigens viele sehr scharfsinnig darin sind, ihre eigene Schwäche zu rechtfertigen, wenn sie eine solche bei anderen entdecken. Viele Kollegen fühlen sich dann davon geradezu magisch angezogen. Sie starren begierig auf etwas, an dem sie selbst schwer leiden und stellen schließlich voller Genugtuung fest, beim anderen ist die Schwäche noch viel stärker ausgebildet als bei ihnen selbst, was ihren Widerwillen gegen mich jedoch keineswegs besänftigen wird. Vielmehr haben sie nun den festen Griff erkannt, an dem sie selbst einmal gefasst werden könnten.


Es stehen Arithmetische Reihen auf dem Stundenplan. Um zu verdeutlichen, wie eine Zahlenfolge gesetzmäßig zunimmt, wähle ich als Beispiel die Schnittpunkte von Geraden und erkläre, zwei Geraden könnten sich höchstens in einem Schnittpunkt treffen. Ich fordere den Schüler Henri Lemoetac auf, nun einmal die höchstmögliche Zahl von Schnittpunkten bei drei Geraden zu bestimmen, auch um der Klasse zu zeigen, ob sich vielleicht eine Gesetzmäßigkeit hinter den Zahlen verbirgt. Der Schüler tritt an die Tafel, zieht mit der Kreide eine senkrechte Linie und sieht mich lächelnd an.


„Drei Geraden“, wiederhole ich.

„Ach so!“, sagt der Lemoetac und setzt einen zweiten Strich schräg auf die Tafel. Als Geraden würden sie sich zwei Stockwerke höher kreuzen.

„Drei!“, sage ich nochmals, nun schon lauter.

Verlegen wendet sich der Lemoetac wieder der Tafel zu, und ich kann von der Seite erkennen, wie sich seine Lippen stumm bewegen. Er denkt nach, und ich kann kaum erwarten, was kommen wird.

„Aha!“, ruft er plötzlich aus. Mit einem Ruck streicht er die beiden Linien durch, legt die Kreide beiseite und tritt einen Schritt zurück. Während er sein Werk betrachtet, bemerke ich, wie er sich still freut; er wendet sich um und blickt mich freundlich an. Ich erkenne, er hat nichts von dem begriffen, wovon die Rede gewesen ist.

„Lemoetac, wozu machst du dich jeden Tag auf den weiten Weg zur Schule?“, sage ich. „Du wirst als Kehrmaschinenfahrer enden, genau wie dein Vater. Wozu strengst du dich also an?“


Ich weiß, viele Kollegen werden nicht mit dem einverstanden sein, was ich gesagt habe, aber wie jedes Bild nach einem passenden Rahmen verlangt, so ist es auch nicht gleichgültig, ob einer in die Gesellschaft passt oder die Gesellschaft zu ihm, in die er sich begeben hat. Zum Beispiel passt der Schüler Oliver Schantz ganz trefflich in die Klasse. Er hat sich dort gut eingerichtet. Er ist ein freundlicher und höflicher Schüler. Er ist meist aufmerksam und arbeitet dann auch gut im Unterricht mit. Bei der Anfertigung schriftlicher Arbeiten muss er jedoch ordentlicher werden. Der Schüler Henri Lemoetac passt hingegen schlecht zur Schule. Er ist schwatzhaft und häufig abgelenkt und kommt mit seinen Mitschülern oft nicht zurecht. In Französisch mag er vielleicht ein Musterschüler sein, doch ist er nicht schlau genug, um seine Schwächen in Algebra zu verbergen.


„Du kannst dich wieder setzen, Lemoetac“, sage ich zu ihm und höre die kuhäugige Melina Kavkos kichern und denke, das junge Fräulein könnte sich doch ein bisschen zurückhalten. Die Kavkos ist eine unaufmerksame Schülerin und arbeitet auch im Unterricht kaum mit, nur ihr häuslicher Fleiß ist ausgezeichnet. Ich sehe den Lemoetac mit gesenktem Kopf zu seinem Platz schleichen und rufe den Schüler Oliver Schantz nach vorn und stelle ihm dieselbe Aufgabe. Der Schantz wischt das schiefe H von dem Lemoetac mit der bloßen Hand weg und malt ein A auf die Tafel.

„Richtig“, sage ich zu den anderen Schülern, „in ein, zwei oder drei Punkten können sich drei Geraden schneiden, und in mehr nicht. Merkt euch das, oder ihr werdet auch als Kehrmaschinenfahrer enden!„


In diesem Moment läutet die Pausenglocke zur allgemeinen Erlösung. Bis auf den Schantz springen alle auf und packen ihre Sachen zusammen. Nichts findet ein Schüler leichter als den Weg nach Hause.

„Danke, Schantz“, sage ich, um ihn zu entlassen. „Und als Hausaufgabe bestimmt ihr bis morgen die Höchstzahl der Schnittpunkte bei vier, fünf, sechs und sieben Geraden.“

Dann sehe ich noch, wie der Schantz seine Tasche holt und dem Lemoetac etwas zuruft, das in dem allgemeinen Lärm aber untergeht.


Zum Abschluss meines Berichts darf ich die Kollegen daran erinnern, Kollegialität heißt, uns gegenseitig zu unterstützen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Als Konkurrenten werden wir den Schulunterricht dagegen niemals gemeinsam verbessern können. Wir leiden auch nicht daran, uns selbst zu sein, während sich andere nie selbst genug sind. Wir können nur uns selbst sein. Wir verstellen uns nicht. Wir lügen nicht. Wir betrügen nicht. Wir verdrehen nichts. Wir halten nichts zurück. Wer dennoch glaubt, hier sei alles falsch dargestellt und nichts stimme, sollte zuerst Rechenschaft von sich selbst fordern.