4. Mai 2025

Der Ruf nach einer Weltkunstschau

 

Der Tod kann ohne Rückspiegel fahren, wir aber werden unseren vergrößern.

Die sogenannte Skandal-documenta 15 ist seit September 2022 vorbei. Seitdem sind Heinz Bude und Meron Mendel mit 15 Wissenschaftlern dabei, ihre Rückspiegel für uns zu vergrößern. Im Wissen, dass die documenta 15 eine der erregendsten war – was wohl auch deren Intention war. Denn schon lange hat sie den Anspruch, nicht nur zeitgenössische Kunst zu dokumentieren, sondern selbst als Ideengeber aufzutreten. In diesem Sinne war es eine gelungene Show, die ihre künstlerischen Ansprüche als Akteur erlebbar gemacht hat. Was gar nicht so einfach ist, in einer Gesellschaft, in der Aufmerksamkeit zwar eine wichtige, oft aber auch flüchtige Währung ist. Jetzt, 3 Jahre nach Ende der Kunstschau, ist der definitive Reader zu Antisemitismus und kolonialer Debatte auf der documenta 15 erschienen. Und er geht weit über diese Themen hinaus. Hinaus und zurück, wenn er zeigt, dass der Boden der heftigen Erregung bereits durch zuvor kursierende Diskurse vorbereitet wurde. Die Diskussion über den BDS-Boykott, postkoloniale Debatten und die beiden miteinander konkurrierenden herrschaftskritischen Diskurse Antisemitismus und Rassismuskritik gab es bereits zuvor. Um nur einige Aspekte dieses nachhaltig intelligenten, spannenden, kompakt und gut verständlichen Readers, der in jeder Kunstinstitution als Pflichtlektüre ausliegen sollte, zu nennen. Einige Artikel beschäftigen sich direkt mit der oft als antisemitisch deklarierten Bildikonografie auf der documenta, deren Herkunft und differierende Lesarten. Selten war Wissenschaft, für jene, die Spaß am Denken haben, ein solcher Genuss. Dabei wird dieser durch die deprimierende Nachricht am Ende des Readers getrübt. Denn einer Studie* zufolge rücken die Gebildeten, je höher ihr wissenschaftlicher Bildungsgrad ist, desto weniger von ihren Positionen ab. Und was soll dieser Reader anderes bewirken, als zu bilden? Bleibt nur der Trost, dass mit dieser Studie nur die wissenschaftliche und nicht die Selbstbildung gemeint ist. Neben den Befindlichkeiten die deutsche Geschichte betreffend wird auch die Indonesiens, von wo das Kuratorenkollektiv ruangrupa stammt, und die des sogenannten Südens untersucht. Dabei wird einem bewusst, wie selbstreferenziell doch viele der documenta-Ansprüche sind. Und die Texte gehen bis in die Jetztzeit und lassen auch die Überfälle der Hamas und den Krieg der israelischen Armee nicht aus.

In den Artikeln kommen aber auch die Kunstvermittler vor Ort, die sogenannten Sobot-Sobot, zu Wort. Denn besonders diese documenta hatte den Anspruch, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen zu wirken. Das zeigt sich auch in den kritischen Untersuchungen der verwaltungs- und zivilgesellschaftlichen Strukturen Kassels zur documenta-Zeit. Oder in der Presse, nein, nicht in der Lügenpresse, sondern bei ihren Meinungs- und Standpunktprofis mit ihren Schnell- und Kurzschlüssen. So werden alle großen deutschen Zeitungen unter die wissenschaftlichen Lupe gelegt. Damit ist der Reader auch ein Lob der Wissenschaft – des vorsichtigen und, im wörtlichen Sinne, rücksichtsvollen Auspendelns. Und er scheut auch nicht vor einer selbstkritischen Haltung zurück. So wenn der Ruf nach einer belebenden „Antiästhetik der Antipolitik“ erklingt. Oder wenn das Scheitern der Institutionalisierung des Weltwirtschaftsforums als Beispiel für die Wichtigkeit von global agierenden Institutionen genannt wird, verbunden mit dem Verweis auf die Notwendigkeit von Institutionen wie der documenta, wenn auch mit ironischem Unterton im Zusammenhang mit dem Ruf nach einer Weltkunstschau. Was dann aber doch irgendwie auch wieder Hoffnung macht.



Christoph Bannat



Meron Mendel (Hg.).Heinz Bude (Hg.): Kunst im Streit. Antisemitismus und postkoloniale Debatte auf der documenta fifteen, Campus Verlag 2025

 

* Die experimentelle Forschung dazu von Dan Kahn und seinen MitarbeiterInnen referiert Fahren Samanani in seinem Buch: Miteinander. Über das Zusammenleben in einer gespaltenen Welt,

2023, S. 224–237