Kanzels sind da

Sind wir zu Hause, werfen wir zunächst einen Blick durch das Wohnzimmerfenster, um zu erkunden, ob Kanzels, die auf der anderen Straßenseite wohnen, zu Hause sind. Erblicken wir sie, sitzend am Küchentisch, vor sich eine Kerze, eventuell Teller, sind wir beruhigt, gehen wir doch davon aus, dass uns kein Übel geschehen kann, solange diese lieben Leute dort hocken und über unser Schicksal wachen.
Manchmal sind Kanzels nicht da, das Zimmer versteckt sich im Dunkel, kein Tisch, nichts. Dann wird es gefährlich, denn sofort fällt uns ein Teller aus der Hand, wir schneiden uns, brechen uns die Beine. Unglück reiht sich an Unglück, bis es mit einem Lichtstrahl bei Kanzels vertrieben wird.
Wir schleifen uns, oft blutverschmiert, hin zu unserem Beobachtungsposten und keuchen erleichtert: „Kanzels sind da!“
Und mit ihnen kehrt das Glück zurück. Wir können tanzen, gewinnen im Lotto, bekommen schmeichelnde Anrufe.
Sollten Kanzels also irgendwann wegziehen, werden wir ihnen folgen müssen, auch werden wir sie überzeugen, das Zimmer, in dem sie sitzen, mitzunehmen, ebenfalls den Tisch, denn es ist das Gesamtarrangement, das so unabdingbar für unseren Frieden scheint.
Kanzels müssen dort drüben sitzen, sonst fällt uns der Himmel auf den Kopf.
Kanzels selbst wissen nichts von ihrer Aufgabe. Wir haben sie nicht darüber aufgeklärt, dass es wahrscheinlich für uns besser wäre, würden sie uns auch zukünftig in den Urlaub begleiten, eventuell würden auch Kriege enden, würde man Kanzels der Menschheit vor die Augen setzen. Die Ruhe, die sie ausstrahlen, könnte Kriegstreiber dazu veranlassen, zu spüren, dass nicht der Gewinn von Neuland erstrebenswert ist, sondern einzig, dass Kanzels am Tisch sitzen.
Denn erst, wenn alle wissen, dass es Kanzels am Tisch sind, die das Universum im Innersten zusammenhalten, wird alles andere zur Nebensache.
Und wieder einmal kommen wir nach Hause und sehen nach, ob Kanzels am Tisch sitzen.
„Nein!“, schreie ich, schreit meine Frau.
Angstschweiß auf unserer Stirn. Wir sind des Todes. Kanzels sind nicht zu Hause. Sie sitzen nicht am allmächtigen Tisch.
„Ist das dort oben nicht ein Komet?“, fragt meine Frau.
Tatsächlich. Der Weltuntergang. Und was tun Kanzels? Nichts. Treiben sich rum.
Da erblicke ich ihren Wagen, der auf langsam vor der Garage zum Halten kommt. Diese gemütlichen Bastarde. Wir öffnen das Fenster und brüllen, allein, sie hören uns nicht.
Der Komet indes wird größer.
So eilet doch, Kanzels, so eilet!
Doch sie verharren, besprechen sich noch. Endlich fahren sie in die Garage. Die Minuten rasen. Der Tod, er steht uns bevor.
Licht!
Sie haben ihr Zimmer betreten, sie setzen sich.
Und der Komet?
Verschwunden.
Wir halten uns lachend in den Armen.
Überlebende. Wir sind die, die noch einmal davongekommen sind.
Dank sei den Kanzels. Mögen sie lange leben. Und an ihrem Tisch sitzen.
Guido Rohm