Halb neun

Von Wolfgang W. Timmler
In der Ferne war ein dumpfes Grollen zu hören, als würde jemand schwere Möbel rücken. Der Wind zerrte an den Bäumen. Dicke Regentropfen schlugen gegen das Fenster. Kubosch hatte schlecht geschlafen. Im Traum war er am Kanal gewesen. Er hatte ihn gesehen. Er war nicht tot. Er hatte nur die Seite gewechselt. Kubosch zog an der Zigarette. Schiefergraue Rauchwölkchen kamen aus seinem Mund und schwebten sekundenlang über dem Bett. Sie zergingen langsam und verschmolzen mit dem bleiernen Licht. Kubosch rauchte Steckzigaretten. Auf der Baustelle rauchten alle Zigaretten vom Polenmarkt, aber davon blieb ihm immer die Luft weg. Er tastete nach der Armbanduhr auf dem Nachttisch und hielt sie ins Licht. Es war kurz nach sieben. Er zog sich an und suchte nach seiner Brille. Das Zimmer war winzig, und er fand sie in den Farbfeldern der Tischdecke vergraben. Kubosch rückte den krummbeinigen Lehnsessel zur Seite und trat ans Fenster. Einen solchen Regen hatte es schon lange nicht mehr gegeben. Die Straße schien zu kochen. Die Scheinwerfer der Autos waren an, und die Wagen zogen langsam vorüber wie bei einer Prozession. Stur schob sich eine Straßenbahn nach vorn. Aus dem Strombügel floss ein blauer Tropfen Licht. Im Hafen konnten sie bei diesem Wetter nichts tun. Der Bauleiter würde mit gusseisernem Gesicht das Barometer betrachten und die Gewerkschaft verfluchen. Er war über sechzig, aber den Betrieb hatte er noch fest im Griff. Alter war für ihn bloß eine Zahl. Dabei sah er aus wie ein Magengeschwür: lang und hager, mit tiefen Falten um den Mund.
Der Himmel war wie Asche, als der Hund am Pier entlangtrottete. Sein Schatten glitt über das ölige Wasser, das mit glitzernden Zungen nach ihm schnappte und dabei leise schmatzte. Der Hund war alt und fast taub. Stacheliger Raureif wuchs auf seiner Schnauze. Sein Fell war von der Hitze ganz matt geworden, und an manchen Stellen sah man die nackte Haut. Um den Hals trug er einen schwarzen Lederriemen, an dem eine Blechmarke hing. Das Leder war abgewetzt und brüchig. Der Hund gehörte dem Bauleiter. Schwerfällig zwängte sich der Rüde durch ein Loch im Zaun und folgte den Schienen der Hafenbahn. Zwischen den Gleisen wucherte Unkraut. Es war von der Sonne verbrannt und schmutzig wie verrostetes Eisen. Am Zollspeicher biss ein Bagger gierig in ein Gewirr aus Röhren und Bauschutt. Sein blauer Metallarm wuchs aus einer Staubsäule empor. Der Mann im Führerhaus gähnte. Vom Kanal wehte eine kühle Brise herüber, die nach Abwasser stank und einem den Atem nahm. Plötzlich brach der Lärm ab. Der Arbeiter kletterte aus der Maschine. Sein gelber Helm glänzte giftig in der Sonne und verschwand hinter den Zwillingsreifen. Der Hund lag auf der Seite und versuchte aufzustehen, aber es gelang ihm nicht. Der zerquetschte Brustkorb hob und senkte sich wie ein Blasebalg. Blut sickerte aus dem Maul und färbte die Reifenspur dunkelrot. Kubosch holte die Wolldecke aus dem Führerhaus und breitete sie über den zuckenden Körper. Dann ging er ins Büro. Als er mit dem Bauleiter zurückkam, schien sich der Hund zu bewegen, aber es sah nur so aus, und sie verscheuchten die Fliegen. Der Bauleiter machte das Halsband ab und steckte es in die Tasche.
„Stell endlich den verdammten Bagger ab. Und hol eine Schaufel!“
Die Woche fing schlecht an. Es goss in Strömen, und er bekam nasse Füße. Der Regen lief direkt in die schwarzen Arbeitsschuhe. Kubosch hatte gedacht, sie würden ewig halten. Die Schuhe waren für die Baustelle, und er trug sie auf der Straße.
„Die Immobilienpleite trifft vor allem die kleinen Baufirmen. Die großen Banken sind fein raus.“
Sie hieß Schneider und arbeitete noch nicht lange im Personalbüro. Kubosch nickte und setzte seinen Namen neben das Kreuz, das die junge Frau mit Bleistift auf das Blatt gemalt hatte. Er steckte die Papiere in die Jackentasche und verabschiedete sich. Beim Hinausgehen sah er auf die Uhr. Seit halb neun war er arbeitslos.