Leben genießen
Anne liegt auf dem Sofa, einer Liegelandschaft, vor sich das Handy, sie scrollt, sie fährt mit dem Zeigefinger über das Display, sie wischt und wischt, Bilder passieren sie, kleine Filme, Unglücke, Landschaften, Tiere, wieder Tiere, die mag sie besonders, das sind Tiere, die kann man mögen, um die muss man sich nicht kümmern, man muss sie nicht füttern, nicht ausführen, sie riechen nicht, sie machen keinen Krach, ideale Tiere, sagt sie zu Tino, der am Computer die Weltnachrichten nach Unglücken absucht, und da sind so viele, so viele, dass sie sich Sorgen machen, große Sorgen, es könnte doch sein, dass die Russen spätestens in drei, vier Jahren vor der Tür stehen, die rüsten tüchtig auf, gewaltig rüsten die auf, die werden schon kommen, denkt Anne manchmal, und das gerade jetzt, da sie doch ihr Leben genießen wollen, Leben genießen, ja, das muss man ihnen doch zugestehen, sie haben hart gearbeitet, sehr hart, da muss man ihnen das doch zugestehen, Mann, sagt Tino, in der Ukraine sieht es nicht gut aus, er nippt an seinem Tee, nicht gut, murmelt er, während Anne virtuell ein Kreuzfahrtschiff begeht, draußen ein Knall, diese Idioten, sagt sie, müssen die, die armen Tiere, sie scrollt zurück, ein Hund, ja, der wird sich an Silvester auch erschrecken, schrecklich ist das, wieder zündet draußen einer einen Böller, das ist nicht in Ordnung, denkt Tino, in der Ukraine sterben die Menschen an echten Raketen, aber das kümmert diese Typen da draußen nicht, die wollen nur ihren Spaß, denkt er und nippt abermals am Tee, er blickt sich nach Anne um, die hinter ihm liegt, auf dem Sofa, der Liegelandschaft, beleuchtet wird sie von einer Lampe, die ihre Farben wechselt, sie wirkt, als würde sie in einer Bar sitzen, alles sehr gemütlich, denkt Tino, hm, Trump, das geht nicht gut, er schmeckt die Pizza, die er gegessen hat, schmeckt sie noch im Mund, Trump, denkt er, das wird nicht gut gehen, die Ukraine, denkt er, Anne scrollt, sie ist jetzt bei einem Wasserfall in Island, der Abend schreitet voran, bald ist das Jahr vorüber, es wird nicht besser, denkt Tino, denkt Anne, sie auf der Liegelandschaft, er vor dem Computer, aber es muss doch werden, denken sie gleichzeitig, wissen es aber nicht.
Guido Rohm