8. März 2004

Gezähmter Wahn

 

"Da tritt der Baron, mein antiker Tenorist, auf mich zu und sagt: O bester Herr Kapellmeister, sie sollen ganz himmlisch fantasieren; o fantasieren sie uns doch eins! Nur ein wenig! Ich bitte!" ETA Hoffmann: Kreisleriana Nr. 1

 

Wer eine Doktorarbeit im Umfang drei dicker Bände verfasst, dem muss tatsächlich etwas Rauschhaftes widerfahren sein. Dass sich das weder sprachlich noch inhaltlich niederschlägt, ist für eine wissenschaftliche Arbeit so selbstverständlich wie bedauernswert hinsichtlich ihrer eigentlichen Absicht, die alte Kluft zwischen Gefühl und Ratio aufzuheben.

 

Carsten Bäuerl, der mit seiner Studie "Zwischen Rausch und Kritik" den Westfälisch-Lippischen Dissertationspreis 2001 erhalten hat, versucht darin den produktiven Rausch mit dem Begriff der Kritik "spannungsgeladen" zu fusionieren. Es geht um Kunst, vor allem um Musik, und deren Interpretation. Und der Autor glaubt, beide befruchten zu können durch die Verbindung von messianischem und dionysischem Kulturstrang. Dazu gedenkt er, die Kritische Theorie, "der heute allerorten der Totenschein ausgestellt wird, erneut ins Leben zu rufen", weil ihre kritische Diagnostik sich heute als gesellschaftlich wahrer erweise als in den 70ern. Das allerdings gelte es erst zu beweisen. Denn der bis in den Duktus hinein an Adorno angelegten Rede fehlt bei Bäuerl gerade die zeitgemäße gesellschaftliche Diagnose, wenn sie sich in Rhetorik und Beispielen allzu sehr auf Vergangenes bezieht.

 

"Sich gestalten wollendes Dionysisches und Kritisches müssen nicht zwangsläufig sich liquidatorische Gewalt antun; gemeinsam erleiden sie ehedem, als offiziell ausgeschlossene, die Gewalt des hegemonialen gesellschaftlichen Machtdiskurses. Dem modernen Kunstwerk ist ein Zusammenspiel zwischen Rausch und Kritik immanent, und dieses Zusammenspiel ist im Versuch einer künstlerischen Lebenspraxis stets geistesgegenwärtig."

 

Da könnte man gleich Adorno lesen: "Der Bürger wünscht die Kunst üppig und das Leben asketisch; umgekehrt wäre es besser." Nur kommt man mit ihm nach Bäuerls Ansicht nicht weiter. Aus moralisch-kritischen Gründen kann Adorno nur für einen schlafenden Dionysos sprechen, weil die Kulturproduktion des Rausches in präfaschistischen oder kulturindustriell-hedonistischen Spielarten mündet. Für Adorno bleibt deshalb nur der Weg in die Avantgarde. Anders dagegen Walter Benjamin, der Bäuerls Vorstellung am nächsten kommt. Für ihn hat nicht die Kritik, sondern die Kunst das letzte Wort. Doch so politisch der Benjaminsche Rausch auch auftritt, so gebändigt ist er zugleich. Denn "Destruktion und Pessimismus gehen dem Rausch vorher", Kritik soll seine Bedingung sein, was ihn letztlich recht ungefährlich erscheinen lässt. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Argumentationsweg über Nietzsche, Bataille, Derrida, Baudrillard und Habermas.

 

Nietzsches "Geburt der Tragödie" ist ein geeignetes Fundament, um die versöhnten Gegner vorzustellen. Dionysos ist für den rauschhaften Impuls zuständig, und Apollo regelt dann die Darstellung. Auf diesem kolossalen Sockel erheben sich nun die putzigen Erker und Türmchen, die Wissenschaft in wahnhafter Kausalitätsgläubigkeit und immer knapp davor, in Kunst umzuschlagen, dort zusammenmörtelt. Aber nur Kunst gerät in den Verdacht, verrückt zu sein, und Dionysos existiert sowieso nur noch in psychiatrischen Einrichtungen. Wissenschaft bringt Ordnung ins selbst gemachte Chaos, aber Kunst kann etwas jenseits der Ordnung. Es bleibt dabei in den ersten beiden Nietzsche-Kapiteln, denn Dialektik ist nicht geeignet, die von Bäuerl angepeilten Synergieeffekte zwischen Rausch und Kritik herzustellen." Dionysos revoltiert gegen die sokratische Kultur, an der er leidet und deren Konstruktion er sich doch bedienen muss."

 

Was sagt Bataille? Luxus! Ja, tödlicher, Furcht einflößender Vergeudungswillen. Aktiver Rausch, erotisch-literarisch übers Knie gebrochen. Dass Bataille schreibend gerade das bannt, was Erotik fordert, ein obszönes regelloses Wuchern, ist nur ein peinlicher künstlerischer Produktionsnebenschauplatz. Bäuerl ärgert sich ein bisschen über den Wortgewaltigen, dessen nicht weiter differenzierter Vorschlag rauschhafter Überschreitung, wegen ohnehin bestehendem Energieüberschuss, auch nur durch die langweiligen anderen, also als Abgrenzung von der geregelten Gesellschaft, aufgereizt wird. Weil Bataille nicht differenziert, tun das andere. Und die Überschreitung findet in unterschiedliche Richtungen statt. Die Souveränität des Subjekts gilt es zu brechen, das erst durch den aufklärerischen Impuls geschaffene Subjekt im Rausch zu töten. Derrida erfindet die totale Dekonstruktion als angemessenen Sparringspartner Bataillescher Todesräusche. Baudrillard will wirklich raus, also Revolte und Tod als einzig wirksame Maßnahme gegen das ökonomische Modell, mit deren anthropologischer Fixierung sich Bataille abgefunden hat. Habermas mault über das moralische Ineinsfallen von Macht, Gewalt und Tod und ist sich obendrein ganz sicher, dass subjektivistische Anarchie, die sich aus dem Exzess gebiert, jegliches gemeinschaftliche Unterfangen unmöglich macht. Benjamin kommt für Bäuerl dem "neuralgischen Feld", in dem Rausch und Kritik sich berühren, am nächsten. Bataille begegnend, sucht Benjamin, den Rausch für Revolution, Revolte und Subversion zu gewinnen. Die böse Kulturindustrie hält Dionysos besetzt, stilisiert bürgerlich-harmonische Kunst, die einst Form und Inhalt aus sich selbst heraustrieb, mittlerweile aber zur Imitation des Identischen geworden ist. Das liegt daran, dass die Künstler, allerdings in anderer Absicht, das Detail emanzipierten, womit man dann, positiv-harmonisch in den Markt einverleibt, Wiederholungen und Effekthascherei betreiben kann zum Entsetzen der Avantgarden, denen ihr ursprüngliches Anliegen, nämlich das Harmoniegetue des Werkbegriffs aufzubrechen, aus dem Ruder gelaufen ist.

 

Es passiert, was passieren musste. Bäuerl, dem der Rausch beim Exzerpieren in unnahbare Fernen rückt, geht vollends über zu geisteswissenschaftlich somnambulen Verschraubungen. Die Doppelhelix Adorno/Benjamin ist zu lang, auch wenn sich anhand dieser beiden Herren das Kunst-, Rausch- und Kritik-Spektakel trefflich entwickeln und verzwirbeln lässt. Als wollte sich Bäuerl selbst wecken, nennt er gegen Schluss des ersten Bandes immer wieder das Erwachen als anzustrebende Praxis, um Erkenntnis (Kritik) im Rausch zu etablieren. Das Träumen als surreales Erwachen aus sokratischer Realität, dem Mehrwert des Traums, nicht dessen Analyse auf der Spur. Guten Morgen, Walter Benjamin. Nicht Glück, sondern Erkenntnis verleiht dem Rausch, der mehr sein will als ästhetischer Budenzauber, höchsten Rang. Ein messianischer Zeitpunkt in dionysisch-apollinischer Gemengelage. Tja, da sind sie wieder die ewig heiteren Götter, und Max Ernsts "Hausengel", der auf dem im Aisthesis-Verlag erschienenen Band seine ins abnorme gesteigerten Rumpelstielzchentänze aufführt, bleibt unerkannt, unidentisch und scheint zu lachen.

 

 

Carsten Bäuerl: Zwischen Rausch und Kritik 1. Auf den Spuren von Nietzsche, Bataille, Adorno und Benjamin. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2003. 410 Seiten, 45,00 EUR. ISBN 3895284122

 

Gustav Mechlenburg/Nora Sdun

 

literaturkritik.de Nr. 3, März 2004