16. November 2024

Wer hat Angst vor Wundern?


Über Knausgård und die knausgårdsche Fiktion
Ein Essay von Fabian Vugrin

»Die Chancen dafür, dass die Sonne morgen aufgeht, stehen sehr gut, deshalb wäre ich ein Idiot, wenn ich auf das Gegenteil setzen würde. Aber deshalb steht es noch lange nicht hundertprozentig fest.«
Syvert in Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit


Karl Ove Knausgård, der norwegische König der autofiktiven Autobiografie, macht sich in seiner neuen und dezidiert fiktionalen Buchreihe zu ebendiesem Idioten – und wettet mit all seiner prosaischen Kraft auf das Gegenteil, auf das Nichtalltägliche, auf das Ungewöhnliche, auf das Noch-nicht-Erfahrene und auf die ganze Macht der Irrationalität.

Zwar geht in seinen Erzählungen die Sonne noch auf, neben ihr erscheint jedoch ein wunderlicher, niemals zuvor erblickter und nicht zu erklärender Himmelskörper: ein neuer Stern. Einer, der wohl nicht nur namensgebend für die Romanreihe ist, von der im Deutschen nach Der Morgenstern (2022) und Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit (2023) vor Kurzem der dritte Band – Das Dritte Königreich (2024) – veröffentlicht wurde. Es handelt sich vor allem um einen Stern, mit dem die Leben der zahlreichen Icherzählerinnen und Icherzähler in scheinbar unentrinnbaren Strudeln aus ihrem gewohnten Dasein gewirbelt werden wie der kleine, harte und pechschwarze Klumpen Kot einer von Knausgårds originellsten Figuren, Jostein.
Das heißt auch: Die hyperrealistische Erzählform gibt der mit seinem sechsbändigen autobiografischen Projekt Min Kamp in die weltweiten Bestsellerlisten geworfene Knausgård nicht auf – im Gegenteil. Seine ausufernd-ausschweifende, hin und wieder mikroskopisch kleinteilige und dadurch überaus langsame (aber auch überaus alltägliche) Prosa füllen sowohl in Der Morgenstern als auch in den beiden weiteren Bänden der vorerst als Heptalogie geplanten Reihe den Großteil der Seiten. Doch selten schimmert ein derartiges philosophisches Fundament in und zwischen den Zeilen eines literarischen Projekts wie in dem Falle der Morgenstern-Reihe. In seiner fantastischsten, spekulativsten und transzendentalsten Form.


Die ewig alltägliche Wiederkunft des wahrscheinlich Gleichen

»Die Monotonie darin, das Leben, das sich endlos wiederholte, war furchtbar.«
Alevtina in Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit


Knausgård haderte nach seinen ersten zwei Romanen, die beide noch fiktiv waren, bekanntermaßen lange – und genaugenommen 4597 Taschenbuchseiten lang – mit dem Genre der literarischen Fiktion: »Allein der Gedanke an eine erfundene Figur in einer erfundenen Handlung hat mir Übelkeit bereitet.« Und wie es scheint, verließ er das Reich des Realen, nachdem seine Geschichte auserzählt war, nicht aufgrund eskapistischer Allüren – sondern um es besser zu verstehen.

Denn insbesondere der erste Band seiner Morgenstern-Reihe ist mit den knapp neunhundert Seiten ein Paukenschlag metaphysischer Spekulation: Immer wieder und beinahe wie grimmsche Brotkrumen lässt Knausgård dabei die Namen philosophischer Temperamente liegen; diese sind mal größer, wie der knapp fünfzigseitige Essay mit dem Titel »Über den Tod und die Toten« seiner Figur Egil Stray; mal kleiner, wie eine Nebenbemerkung eines Nebencharakters, die keine ganze Seite einnimmt. Zwar findet sich auf seiner zu dem Romanprojekt gehörenden Website neben einer sorgfältig arrangierten und außerordentlich norwegischen Ästhetik, die Knausgård selbst lives and breathes (and looks) – auf der ersten Seite seines dritten Bandes vergleicht er Depressionen mit Trollen –, ebenfalls eine eher ausführliche Literaturliste, die ihn beim Schreiben seines Projekts inspiriert haben soll. Ohne den Kontext der Erzählung findet man in dieser jedoch wenig Kohärenz.
Nur im Verlauf des ersten Bandes bekommt man eine Ahnung von dem in die Erzählung eingebetteten Mosaik aus Existenzphilosophie, Nietzsches Brachialgedanken der »ewigen Wiederkunft«, Wissenschaftslogik und Wissenschaftskritik, Erkenntnistheorie sowie den eschatologisch-apokalyptischen Elementen christlicher Mystik – all das gezogen von transhumanistischen Visionen. Und je weiter die Handlung voranschreitet, desto deutlicher erscheint das philosophisch-anthropologisches Fundament, auf dem Knausgård seine Romane erzählt. Es finden sich drei Großgedanken.

Erstens sind Der Morgenstern, Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit und Das dritte Königreich radikal Heidegger’sche Romane. Die für den norwegischen Autor typischen, äußerst ausführlichen Beschreibungen uneigentlicher Alltagshandlungen uneigentlicher Alltagsmenschen, die eingebunden sind in uneigentliche Alltagsleben, wie die Zubereitung von Speisen oder der vorgetäuschte Gang zur Toilette, beschreiben das menschliche Dasein nämlich in seiner durchschnittlichsten Alltäglichkeit. Und damit so, wie es in Heideggers Augen zunächst und zumeist in der Welt ist. Jene Geworfenheit in und das Verfallen an den Alltag sind – notwendigerweise – die Hauptmodi, in denen sich Knausgårds Figuren befinden. Nach ein paar Dutzend Seiten jener ungeniert realistischen Ausführungen des Lebens im sozialen Funktionszusammenhang und dem dahinter Verschwinden des Daseins springt das »Man« den Lesenden beinahe schon ins Gesicht. Wie Heidegger bei seiner Frage nach dem Sinn von Sein beginnt auch Knausgård das Ausgangszenario seiner Romane in der Alltäglichkeit:

»Ich stellte die leere Flasche zwischen die anderen auf den Boden des Schranks, überlegte einen Moment, ob ich sie in eine Tüte stecken und zum Auto tragen sollte, um sie am nächsten Tag zum Glascontainer zu fahren, weil ich die Anzahl der Flaschen auf einmal mit den Augen anderer sah, aber das war noch lange kein Grund, sie gerade jetzt nach draußen zu bringen, um elf Uhr abends, das konnte ich morgen machen, dachte ich, spülte das Glas unter fließendem Wasser, rieb mit den Fingern über den Boden, trocknete es mit dem Küchenhandtuch ab und stellte es in das offene Regal über der Spüle.«

Oder:

»Ich trottete ins Bad, um die Zähne zu reinigen und zu putzen. Die Zahnpflegerin hatte mir eine neue Zahnzwischenraumbürste empfohlen, die ich aus der Kulturtasche holte, sie waren orange mit einer biegsamen Metallspitze, bedeckt von kleinen, weichen Plastikfäden in einer Bürste, mit der man in alle Zwischenräume hineinkam, so eng sie auch sein mochten.«

Zweitens herrscht(e) in der knausgårdschen Erzählrealität, wie er die eher einfältige Nebenfigur Gaute in Der Morgenstern als Erste erkennen lässt, bisher: »›Die ewige Wiederkunft‹«. Leben entsteht, lebt und stirbt und etwas wirklich Neues passiert nicht, alles, was zu erfahren ist, ist das erfolgreiche Gleiche. Und damit ist man bei Nietzsches Surlej-Felsen-Gedanken:

»In einer unendlichen Zeit würde jede mögliche Combination [von »Kraftcentren«] irgendwann einmal erreicht sein. Und da zwischen jeder »Combination« und ihrer nächsten »Wiederkehr« alle überhaupt noch möglichen Combinationen abgelaufen sein müßten und jede dieser Combinationen die ganze Folge der Combinationen in derselben Reihenfolge bedingt, so wäre damit ein Kreislauf von absolut identischen Reihen bewiesen: die Welt als Kreislauf der sich unendlich oft bereits wiederholt hat und der sein Spiel in infinitum spielt.«

Es gibt nichts Neues, alles ist schon einmal passiert und wir sind zur ewigen Wiederkunft verdammt – Gaute bemerkt es nebenbei.

Die dritte Ebene bringt in der zweiten Hälfte von Der Morgenstern schließlich der Architekt Helge, hier ebenfalls noch eine Nebenfigur, mit seiner expliziten Wissenschaftskritik in den Roman ein. Nach dem Radiobeitrag eines Astronomen über den neuen Stern bemerkt er:

»Ihnen geht es nur darum, dass alles, was passiert, früher schon einmal passiert ist und jetzt auf exakt gleiche Art wieder passiert. Darauf basiert die gesamte Wissenschaft. Dass alles bestimmten Gesetzen folgt und diese Gesetze sich niemals verändern.«

Während Knausgård auch auf Descartes’ Discours de la méthode und die Anfänge der Wissenschaftsphilosophie referiert, weiß er im Gegensatz zu diesem jedoch, dass es die unwiderlegbare, endgültig verifizierte Wahrheit nicht gibt. Knausgård erinnert stattdessen daran, dass Naturgesetze statistische und keine deterministischen Gesetze sind – und hinterlässt damit den Brotkrumen der Wissenschaftstheorie, welche in die Richtung Charles Sanders Peirces und Karl Poppers weist; also hin zur erkenntnistheoretischen Position des Fallibilismus und unserem heutigen Verständnis von Wissenschaft. Peirce war – großzügig zusammengefasst in den Worten Alevtinas, einer Protagonistin aus dem zweiten Band von Knausgårds Reihe – der Überzeugung: »Naturgesetze sind unsere Methode, Erfahrungen zu organisieren«. Und Popper war es, der darauf hingewiesen hat, dass die Wissenschaft ihre Hypothesen niemals verifizieren, sondern lediglich falsifizieren kann: Alle Schwäne sind nur so lange weiß, wie keine schwarzen Schwäne gesehen werden; wahr ist es jedoch nicht, endgültig wahr ist es niemals. Wir sind dennoch wissenschaftlich als auch lebenspraktisch darauf angewiesen, dass auch morgen noch der Apfel vom Baum fällt, dass auch morgen noch die Sonne aufgeht – und dass auch morgen kein infernalischer, sonnenheller und wie aus dem Nichts entstandener Himmelskörper am Firmament aufleuchtet; aber deshalb steht es noch lange nicht hundertprozentig fest.

Knausgård erzählt seine Morgenstern-Reihe mithin auf dem triptychonischen Fundament Heidegger’scher, nietzscheanischer und wissenschaftstheoretischer Annahmen. Im Jahr 2019, also noch während der Entstehung des ersten Bandes, hat er jene daraus resultierende und von ihm selbst wahrgenommene Conditio mundana im Kontext seiner Tübinger Poetikvorlesungen in nicht prosaischen Worten zusammengefasst: Bei seinem neuen literarischen Anliegen gehe es »um ein Gefühl, das mich seit Längerem umtreibt, dass die Zukunft nicht mehr existiert, weil die Jetztzeit uns in Formen vermittelt wird, die so fest sind und so auf Wiederholung basieren, dass das Zukunftsartige an der Zukunft, ihre Unvorhersehbarkeit, verschwunden ist, ähnlich einem Fluss, der in eine Röhre verlegt wird. […] Wie schreibt man darüber einen Roman?«


Man lässt einen neuen Stern erscheinen.


Der Morgenstern und das Ende der Alltäglichkeit

»Es war doch nicht undenkbar, dass etwas völlig Neues passierte? Etwas, das nie zuvor passiert war?«
Solveig in Der Morgenstern


Die Schwäne sind, wie gesagt, nur so lange alle weiß, bis auch nur ein einziges schwarzes auf der Wiese auftaucht; die ewige Wiederkunft nur so lange ewig, bis der Zyklus einmal durchbrochen wird, der im Modus des »Man« seiende Mensch nur so lange in die Alltäglichkeit geworfen, bis er aus dieser herausgerissen wird – und die Menschen sind nur so lange sterblich, bis keiner mehr stirbt.

Knausgård betreibt mit seiner Morgenstern-Reihe, wie so viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller vor ihm, eine literarische Beschattung der Wissenschaften. Es sind erwartungsgemäß die naturwissenschaftlichen Paradoxe oder theoretischen (Schein)Widerlegungen physikalischer (Schein)Gesetze, die regelmäßig Eingang in die Literatur und vor allem in die Science-Fiction finden: Max Frischs Homo faber begann eine Dissertation über den maxwellschen Dämon (welcher den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik heimsucht) und Edward Ashton baute seinen zeitgenössischen Bestseller Mickey 7 um das Theseus-Paradoxon.

Die Morgenstern-Reihe ist dahingehend selbst beinahe schon spekulative Fiktion, eine, die im Thomas Nagel’schen Duktus, aber mit der Frage »Was wäre, wenn?« metaphysischen Antworten nachgeht. Alles muss ewig wiedergekehrt sein, damit es plötzlich etwas Neues gibt, ein unerklärlicher Stern kann nur dann aufleuchten, wenn wir die alten schon lange gewohnt sind – Zukunft muss unvorhersehbar sein, damit es die Zukunft gibt. Ohne Alltag keine Wunder, und Wunder, so erzählt uns Knausgård, sind Ansichtssache.

Das heißt auch: Damit die Menschen aus ihrem Alltag herausgerissen werden können und ihre Leben, die seit Jahrtausenden bekannten Gestirne, die Welt und ja, das Dasein an sich in aus Heidegger’scher Sicht überhaupt erst aufleuchten können, muss zuerst eben jener Alltag in realistischer und bestenfalls hyperrealistischer Manier erzählt werden – also a la Knausgård.


»Du bist gerichtet worden« – Christliche Mystik und Transhumanismusfantasien

»Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen und nicht finden, sie werden begehren zu sterben und der Tod wird vor ihnen fliehen.«
Die Offenbarung des Johannes, Eingangszitat in Der Morgenstern


»Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.«
Die Offenbarung des Johannes, Eingangszitat in Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit

Untermalt wird das Auftauchen des alltagszerreißenden Sterns durch unheimliche, oder besser gesagt, unerklärliche Vorkommnisse – und einem ebenfalls nicht gerade kleinen anthropologischen Dilemma: der Unsterblichkeit. Die mysteriösen Morde an den Mitgliedern einer Heavy-Metal-Band verblassen vor dem Hintergrund, dass (posthum) kein Mensch der Welt mehr zu sterben scheint. Knausgård erfüllt damit eine Vision der Offenbarung beziehungsweise Apokalypse (der Name Stephen King fehlt immerhin in keiner Knausgård-Rezension) des Johannes und lässt die eine universale menschliche Grundgewissheit verschwinden: den Tod.

Die literarisch-biblischen Mottos verarbeitet Knausgård zwar in der Handlung der Buchreihe; er greift sie aber vor allem in zwei in die ersten beiden Romane verflochtenen Essays auf. In dem ersten, »Über den Tod und die Toten. Ein Essay von Egil Stray«, philosophiert eine der Hauptfiguren aus Der Morgenstern anhand des Leitgedankens »Es ist der Tod, der uns erschaffen hat«, über, man ahnt es, den Tod und die Toten. Am Beispiel des Augsburger Wunderzeichenbuchs und einiger durchaus origineller Ideen über die Prämissen des Lebens sowie mit Bezugnahme unter anderem auf Peter Sloterdijk, Søren Kierkegaard, Friedrich Nietzsche, Mircea Eliade und kurzer Ausflüge ins ägyptische Totenreich wird hier nochmals die Kritik an der Kosmogonie der Rationalität verfestigt. (Während Nietzsche noch insbesondere auf Knausgårds Debüt Aus der Welt starken Einfluss ausgeübt zu haben scheint, sind in der Morgenstern-Reihe – bis auf die »Ewige Wiederkunft« – vor allem Sloterdijks Sphärologie und Uterologie sowie Kierkegaards Momentphilosophie deutlich präsenter).

Der im zweiten Band untergebrachte Essay »Die Ewigkeitswölfe« der Figur Vasilisa Baranow ist ein Ausflug in die Transhumanismusfantasien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus dem Dunstkreis des Bibliothekars und Philosophen Nikolai Fjodorowitsch Fjodorow, welche, inspiriert und angetrieben von christlicher Mystik, die Auferstehung der Toten im Besonderen und die Eliminierung der Sterblichkeit im Allgemeinen als wissenschaftliche Pflicht ansahen.

Mit der Evolutionsbiologin Alevtina, die nach und nach durch die Auseinandersetzung mit dem fungalen Phänomen Mykorrhiza und spätestens infolge einer Psychedelika-induzierten Mini-Epiphanie den Glauben an naturwissenschaftliche Erkenntnis verliert und deren reduktionistischem Dogma abtrünnig wird, untermauert Knausgård in Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit einmal mehr seine prosaische Erkenntniskritik. Poststrukturalistische Thesen zur Fragilität der Realität und Referenzen auf den Philosophen Thomas Nagel tragen ihr Übriges dazu bei.

Knausgård verfestigt in seinem zweiten Band damit die philosophische Prämisse des ersten und widmet sich etwas mehr den Folgen, die aus jener Idee entstehen – lässt aber auch diese, wie im Grunde alle Geschichten seiner drei Romane, weitestgehend offen.


Der Teufel steckt im Detail

»Faust up my ass, aber ehrlich.«
Jostein in Der Morgenstern


Knausgård mäandert dabei in und zwischen seinen Romanen stetig von der modernen Wissenschaft auf der einen Seite hin zu Mythologie, Mystik und Okkultismus auf der anderen.

Insbesondere in seinem im Mai auf Deutsch erschienenen dritten Band Das dritte Königreich – dessen Titel eine Allusion auf die mittelalterlichen Vorstellungen eines christlichen »dritten Reiches« sind, in dem nach Gott und Jesus die endzeitliche Herrschaft des Heiligen Geistes anbrechen wird –, dominiert das Mysteriöse, das Unbewusste und das Bild- und Traumhafte. Nach nicht einmal zwei Seiten im Buch trifft man daher schon auf die Ideenwelt Carl Gustav Jungs. Auch hier stößt die herkömmliche Wissenschaft im Verlauf der Geschichte zunehmend an ihre Grenzen, veranschaulicht von Knausgård insbesondere anhand eines Diskurses zum sogenannten hard problem der kontemporären Bewusstseinsforschung.

Knausgård baut in Das dritte Königreich damit auf dem philosophischen Fundament der ersten beiden Bücher auf, traut sich hier aber etwas weiter in das Gebiet des Was wäre, wenn? In Bulgakow’scher Manier setzt er dafür immer mehr den Teufel in Szene, für wessen Rolle insbesondere der diaboleske Kristian Hadeland in Frage kommt (und der in Knausgårds viertem und in Norwegen bereits erschienen Band eine größere Rolle einnehmen wird). Doch auch hier deutet Knausgård, wie gehabt, nur an. Er bleibt im Vagen, im Vielleicht-Möglichen und rettet sich im letzten Moment wieder in die Faustregel des Fallibilismus: »Ich sage nicht, dass der Teufel existiert. Ich sage nur, dass es sich nicht definitiv ausschließen lässt.«



Keine Angst vor Wundern

»Die Zukunft ist verschwunden, und die Ewigkeit hat begonnen.«
Vasja in Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit


Wenn Knausgårds Figuren in geheimnisvollen Momenten die Worte »Du bist gerichtet worden« an den Kopf geworfen bekommen, der Tod scheinbar nicht mehr Teil der Welt ist und ein neuer Stern am Himmel steht, den der superintelligente Astrophysiker Joar »ein Wunder« nennt – dann können die interessierten Leserinnen und Leser nur spekulieren: Ist er gekommen, der Tag des Jüngsten Gerichts? Doch, wenn überhaupt, Knausgård wird es wissen. Schließlich hält er es mit seinen Büchern wie Kierkegaard mit dem Leben: Schreiben muss man den Roman vorwärts, verstehen kann man ihn nur rückwärts.

Ob Knausgård es auflösen wird oder nicht: Es macht schlicht Spaß, eine zeitgenössische Romanreihe zu lesen, die sich an die großen, zur Spekulation verdammten metaphysischen Fragen wagt. Eine Reihe also, in der man bisher tatsächlich so etwas wie ein kleines Dostojewski’sches Projekt erkennen kann.
Heidegger zufolge ist das Dasein erst mit dem Tode gänzlich zu Ende. Was aber, wenn der Tod nicht mehr eintritt? Dann wird das Dasein niemals mehr vollständig werden, immer nur Beginne, aber kein Ende haben, immer nur in der Sorge bleiben und auf ewig in dem vorläufigen Zustand einer existenziellen Unabgeschlossenheit sein – also eigentlich genau so, wie die Geschichten von Knausgårds Icherzählerinnen und Icherzählern.

Wenn man einsieht, dass wir nicht wissen können, was wir eigentlich wissen wollen, dann geht, wie der führende Anthropo-Monstrologe Peter Sloterdijk weiß: der wissenschaftliche in einen ästhetischen Impuls über. Auch Knausgård kann nicht wissen, was er eigentlich wissen will. Aber er ist auf bestem Wege, es literarisch erfahrbar zu machen.




Literatur

Knausgård, Karl Ove. 2022. Der Morgenstern. München: Luchterhand.

Knausgård, Karl Ove. 2023a. Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit. München: Luchterhand.

Knausgård, Karl Ove. 2023b. Der Roman ist die Form des Teufels. Tübinger Vorlesungen. München: btb Verlag.

Knausgård, Karl Ove. 2024. Das Dritte Königreich. München: Luchterhand.

Kunzru, Hari. 2014. »Karl Ove Knausgaard: the latest literary sensation«. The Guardian. Abgerufen 25. Mai 2024 (https://www.theguardian.com/books/2014/mar/07/karl-ove-knausgaard-my-struggle-hari-kunzru).

Nietzsche, Friedrich. 1996. Die nachgelassenen Fragmente. Eine Auswahl. Stuttgart:
Reclam.

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