5. November 2024

Quallen von Farbe


Einige Gesten des Auf- und Zumachens beherrschen die Gedichte in Farbleib, Saskia Warzechas zweitem Lyrikband bei Matthes & Seitz Berlin ein bis zum Äußersten durchdachter Text aus diversen Subtexten, Einblendungen, der doch minimalistisch mit nur sehr wenigen Seiten wie Worten auskommt. Wann immer ein Bild aufscheint, reagiert das Gedicht. Ein „Zögling“ tritt auf, in einer Stolper-, bald darauf Schraubbewegung vor „Hierscharnieren“, zieht um, durch, vor ein Haus, auch Sonne. Schiebbare Elemente eines großen gesamten Bilds werden auf komplexe Weise verschoben, zueinander hinweg. Einzooms, Auszooms in einem unberechenbaren Raum.

„Zögling übt Tiefe am Schacht
dann am Schächtelchen

fährt Auskleidungen ab

und übt dann am Finger verstehen“

Einfügungen wie Inserts, die durch fehlende Interpunktion nicht sofort erkennbar sind, lockern den rhythmisch ohnehin lockeren Text weiter auf, erfordern ein extrem langsames Lesen, begleitet von einem Vogel beispielsweise, mit „Festfarbe sich ins Gefieder“, „die Frage : // Farbleib aber / wie ist das Leid? // das Leid : hat / Farbleib“.
Der Zögling beschäftigt sich selbst mit Wahrnehmung beziehungsweise scheint sie zu erlernen, versucht sie zu erlernen. Unterbrochen von der Schriftikone „Farbleib“ schreitet das Langgedicht vorwärts. Abstrakte Begriffe, Nennungen, Schöpfungen pflastern dessen Weg: „Gesternfenster“, „Vorhin-Spiel“, „Nunspuk“, später „Primwand“ und „Fastregel“ stemmen sich gegen Verbildlichung, gefühlige Verortungen. Farbleib ist im textlichen Auftreten eine zurückhaltende Schicht Bildgebung mit avancierter Notation. Auf den Seiten befinden sich abnehmende Zeilen, -gespanne, Textartefakte, die sanduhrartige Körper aufweisen. „wie werden Zaubersprüche symmetrisch verfasst?“ – dies ist vielleicht am ehesten das poetologische Selbstverständnis, vielleicht das Erkenntnisinteresse dieses Texts.
Zum Schluss, sozusagen nach dem Vorhang, geben sich vier Quellenzitate als Generatoren zu erkennen, die zum Enzympunkt werden: Samuel Beckett, Victoria Chang, Vilém Flusser, Rosmarie Waldrop, bei denen besonders „Fisch“, „Farb“ und das Wahllose „der Sonne“ in ihrem vorgegebenen Vokabular zu den wiedererkennbaren Momenten, Ausgangspunkten, Ideen dieses experimentellen Langgedichts geraten. Die Versuchsanordnung ist gegeben – eine Wahrnehmungenkontrolle der Lesbarkeit einer Bildeinrichtung vielleicht.

Jonis Hartmann

 

Saskia Warzecha: Farbleib, Matthes&Seitz Berlin 2024