19. September 2024

Die Hintertür deines Gehörs


Sprachgewandt, geistreich, in Schleifen – so arbeitet Die Goldwaage. Nasima Sophia Razizadeh erschafft in diesem gewichtigen, bei Wallstein erschienenen Lyrikband additive Gedichte, die einen Bogen spannen aus Sprachherkünften, ohne strophische Zäsuren und meist auf einer Seite stattfinden als Ort der Dichtung, im Hochformat-Hardcover. Oft ist es ein sich über viele Zeilen auflistender Satz, der das gedruckte Gedicht zur schmalen Skulptur macht. Der Duktus erinnert in seiner Strenge, nicht wenigen Partizipgebräuchen, an Dichtung der klassischen Moderne, doch sind es die Unterbrechungen, geistvollen Schübe, die plötzlich hineinschneien, was diese Dichtung im Jetzt verortet.


„Du siehst, ich bin im Kreis gefallen,
du siehst, die Furche ist kein Wunder“


Razizadeh einwebt spannungsreiche, sinnig-haptische Wort-Bild-Begriffe wie „Sogsüchtige“, „Anti-Enigma“, „Brückentier“, „Dunktelteilchen“, „Bohrengel“ oder „Muttersprachmilch“, „Kompassrose“ – „[...] Öhr / einer ungeduldigen Kompassnadel, / die bestimmt ins / Blaue weist“ – und viele mehr. Das Spielerische ist ihrer Lyrik nicht fremd. Im Gegenteil, wesentliche Fortbewegung geht von assoziativen, cleveren Verwandtschaftsfindungen aus, „unsere Entsprache“, „da liegt [...] darlegt“, die unmittelbar die Geschwindigkeiten steigern. Doch auch in puncto Bildsprache findet Razizadeh plastische Momente: „gehe rückwärts [...] wie der Sinn in den Reiz.“


Ihre Gedichte, die über stets weitere Einschübe sich aufbauen, konstruieren einander über Wiederholungen / Listen, um sich schließlich auf fast 140 Seiten zu erstrecken. Dabei fällt auf, das viele der Poeme tatsächlich in Satzsyntax (s.o.) komponiert sind, gegen die der Umbruch zwar agiert, doch letztlich beinah alle Gedichte auf das Schließen ihres einmal begonnenen Satzzuges aus sind, beziehungsweise sich zumindest darauf einlassen, einen Abschluss hervorzubringen. Brüche in der Struktur erfolgen in der Kapiteleinteilung des Gedichtestroms, der sich größtenteils von einem hörbaren lyrischen Ich aus entfaltet. Dieses Ich arbeitet reflektiert; es scheint zu wissen, dass es sich in einem Gedicht äußert, „dass es barfuß / gehe, das Gedicht, an das ich dachte“.


Mythologisches Vorwissen hilft in der Verortung der Wortgedankenspuren. Zu Lethe heißt es im Abschluss:
„Obacht! Ein Übersetzen wäre Frucht und Wort,
und Traum und Reich, und Fluss und Wunsch zugleich.“


Mythische Figuren, wie auch biologische Faktoren verweilen in Nasima Sophia Razizadehs Gedichten. Worte werden exerziert: „meinem Blick, meinen Blicken, meinem Blicken“. Wo sich die Dichterin von den Worten tragen lässt, passiert eine Menge auf engem Raum. Andererseits ist das Sprachregister ein hochgehaltenes: „Perikarp“, „Papaver“, „hylisch“ etc. stehen als Selbstverständlichkeiten in naturwissenschaftlich nahen Beobachtungen neben Ausfaltungen zwischenmenschlicher, eher auf die Zunge bezogenen Austauschen. Die Gedichte bleiben zurückhaltend in ihren Bögen der Auskünfte von jenem lyrischen Ich, das wie ein Brückenstein zu Satz / Besatz kommt. Hellwache Träume, wenn man so will, die wie Etüden einer Persona einspannen, der zugeschaut / -gehört werden darf, wenn wie in Abhandlung eine gleichnamige stattfindet zur dortigen Erforschung der Silbe „mund“ in verschiedensten Vorkommen und Stellungen, mit erfrischendem Ausgang. Die Goldwaage ist nicht angelegt, um in einem Zug hindurchzulesen, die schiere Länge verhindert den Gesamteffekt, sondern vielmehr die Selbstähnlichkeiten im Einzelgedicht, wie in der einzelnen Silbenbetrachtung, ihrer Verarbeitungen bei Nasima Sophia Razizadeh schätzen zu lernen: Das vorsichtige Blättern.

Jonis Hartmann

 

Nasima Sophia Razizadeh: Die Goldwaage, Wallstein 2024