15. Juli 2024

Vom Brüllen der Nashörner


Autobahnende. Hamburg Horner Kreisel. Das Abbremsen ist kaum zu spüren, genauso wenig wie die Beschleunigung, wenn ich abends aus der Stadt raus Richtung zu Hause rolle, genauso wenig wie ein schönes Tempo auf der Autobahn. Zwei Tonnen bestes Material, von einem Dieselmotor angetrieben, sechs Zylinder, schluckt offiziell gerade mal siebeneinhalb Liter auf hundert Kilometer. Schwarz. Ich weiß, schwarze Mercedesse finden manche Leute gangsterhaft. Ich nicht. Fahren fast alle Staatschefs und denen würde niemand unterstellen, Gangster zu sein, oder?
Lederbezüge. Ich weiß, nicht vegan. Aber die Tiere sterben sowieso für die Fleischproduktion. Das Leder ist nur ein Abfallprodukt und Leder ist nun mal viel langlebiger, letztlich nachhaltiger, könnte ich mir vorstellen, als andere Materialien. Kompostiert auch zu einhundert Prozent, eigentlich ein idealer Werkstoff in diesen Zeiten.
Die Ruhe hier drinnen liebe ich. Windgeräusche, Abrollgeräusche, Motorenklang, kaum zu hören. Wie in einem U-Boot, weit weg von allem, draußen Tausende Tonnen Wasserdruck. Eine Blase der Stille, die mich zur Arbeit trägt. Klassische Musik höre ich gerne. Ich weiß, viele Leute finden, das passt nicht zu mir, weil ich einen Baustoffhandel habe und kein Studium. Mit dem Handel habe ich oft eine Menge Stress, da bringt mich die Musik runter. Chopin mag ich besonders gerne, die Sonaten gefallen mir am besten. Ich bin kein Kenner, das weiß ich, ich kann nicht sagen, welche Einspielung von welchem Virtuosen oder welcher Virtuosin mit welchem Orchester und mit welchem Dirigenten wirklich ganz einsame Spitze ist. Ich höre da keine großen Unterschiede. Ich mag einfach die Musik. Aber ich verdiene meine zweihunderttausend im Jahr – und das ist netto.
Mein Haus liegt im Umland. Und ich weiß, dass es nicht speziell repräsentativ ist. Es ist einfach das Haus meiner Eltern und mein Vater lebt auch noch bei uns im ersten Stock. Natürlich habe ich alles neu machen lassen. Sauna ja, aber ohne Indoor- oder Outdoorpool, Panoramaverglasung oder solche Sachen. Gut dämmen habe ich es lassen. Und eine Wärmepumpe hatte ich schon, da wussten die meisten Grünen noch nicht mal, wie man das buchstabiert.
Georg heiße ich. Schnauzbart trage ich. Und ja, ich weiß, dass Schnäuzer nicht mehr getragen werden. Einen Bauch habe ich auch, fast schon einen Wanst und den trägt man heutzutage ja auch nicht mehr. Und natürlich können Sie da jetzt über mich lachen, aber Sie können mir auch den Buckel runterrutschen.
Hier geht es runter auf achtzig. Draußen der Tag ist fad, ein paar Termine stehen heute an, ins Lager muss ich auch. Wenn ich gut durchkomme, ist es eine Dreiviertelstunde von zu Hause ins Büro. Die Ampel vor mir an der Kreuzung schaltet auf Gelb, bremse allmählich runter, fünfzig, dreißig. Am Straßenrand stehen Leute mit orangenen Transparenten, tragen grelle Warnwesten. Als die Ampel auf Rot springt, laufen drei von denen auf die Fahrbahn, einer setzt sich auf meine Spur, direkt hinter die Haltelinie. Hitze schießt mir hoch. Lasse den Wagen rollen. Schritttempo. Mit mir nicht, meine Lieben. Nicht mit mir. Ich weiß, wer ihr seid. Lasse ihn immer weiterrollen, auf den einen vor mir zu, immer weiter.
Jemand hämmert von der Seite auf die Motorhaube. Mir reißt der Faden. Anhalten, losschnallen, Tür auf. Springe raus, stoße mir dabei brutal den Kopf am Rahmen. Mein ganzer Körper schwimmt in einer atemlosen Hitze.
„Pfoten weg von meinem Auto“, schreie ich. Benutze ein Schimpfwort. Das macht man nicht, ich weiß, und Sie können mich gerne dafür verurteilen. Aber die meisten machen es doch, ich jetzt eben auch. Notwehr würde ich das nennen. Gegen den Angriff auf mein Auto.
Die junge Frau schaut mich erst entgeistert an, nimmt aber ihre Hände von der Motorhaube. Auf der Nebenspur hat ein weißer Lieferwagen gehalten. Da steigt auch der Fahrer aus, „die schaffen wir weg“, ruft er mir zu, „schnell, bevor die den Kleber rausholen“.
Meine Hitze verbindet sich mit seiner. Die Hitze vom Schlag gegen den Schädel mit der, die sonst schon da ist. Echauffiert mich die Sache. Ziemlich. Echauffieren heißt erhitzen, das weiß ich, auch wenn ich kein Französisch spreche.
Den einen von denen, den, der direkt vor meinem Auto sitzt, die Stoßstange gerade mal vierzig, vielleicht fünfzig Zentimeter von seinem Brustkorb entfernt, die Beine im Schneidersitz schon fast unter dem Wagen, den packe ich mir. Es war völlig unverantwortlich, den Wagen so weit rollen zu lassen. Die Frau, die mir auf die Motorhaube gegeben hat, hat mir den Allerwertesten gerettet, das sehe ich jetzt und das legt eine klare Kälte neben die Hitze, die mir sagt, dass der da wegmuss.
Greife ihn an der Jacke, zerre Richtung Grünstreifen. Direkt vor mir zerrt der andere Fahrer, der auch einen am Kragen gepackt hat. Die wehren sich nicht. Das ist deren Konzept. Ich habe einen Artikel darüber gelesen, zivilen Ungehorsam nennen die das, für das Richtige einstehen, auch gegen Gesetze, wenn die Gesetze das Falsche schützen. Habe ich schon verstanden. Wie der Gandhi oder der Martin Luther King oder die Walschützer anno dazumal.
Die denken, die wüssten es besser als wir anderen, so sieht es doch aus.
„Hey, Sie tun mir weh“, ruft der, den meine kalte Hitze mit einer Kraft, die überraschend ist, zum Bordstein schleift. Wahrscheinlich ist das Körperverletzung. Sehr sicher ist es das. Wahrscheinlich würde der Richter ein Auge zudrücken. Notwehr. Sehr sicher deshalb, weil er auch Mercedes fährt und auch ein Einfamilienhaus hat.
„Warum hab ich das alles, was ich habe?“, rufe ich, keuche dabei, weil der Kerl ein ganz schönes Schwergewicht ist. „Weil ich’s mir verdient habe. Dafür geschuftet habe. Und jetzt soll das alles falsch sein, ja?“ Die Arme zittern mir. Der andere Fahrer schleift schneller, das sehe ich und das gefällt mir nicht. Versuche, ihm hinterherzukommen. „Meint ihr, ich bin blöd? Bin ich nicht. Weder blöd noch blind. Ich weiß, was los ist. Ich war im Ahrtal. Ihr bestimmt nicht. Hab die Verwüstung dort gesehen. Hab da mit angepackt. Zwanzigtausend Euro gespendet. Ging mir nah. Geht mir auch nah, wenn ich mitkriege, wie die letzten Nashörner krepieren. Oder die Bienen. Für die Umwelt spende ich auch. Ihr denkt, niemand sonst hat Ahnung.“
Schnaufe schwer, hieve ihn letztlich über die Bordsteinkante. Schweißgebadet bin ich. „Ich bin nicht blöd“, pfeift es raus aus mir.
Bin ich nicht. Man steht nicht gerne auf der falschen Seite. Das passiert aber, weiß ich aus Erfahrung. Das schmerzt, wenn es passiert. Immer. Ich weiß, ich stehe mindestens mit einem Bein auf der falschen Seite. Vielleicht schreie ich deshalb so laut. Wenn man da stehen bleibt, warum auch immer, auf der falschen Seite, kommt einem schnell mal die Hitze, greift sich dann die, bei denen es am einfachsten ist. Weil es guttut, wen am Schlafittchen zu packen.
„Du denkst. Mir ist das alles völlig egal. Ist es aber nicht.“ Lasse ihn los. Mein Herz rast. Zittere vor Anstrengung. Hohen Blutdruck habe ich und eine leichte Gefäßverengung habe ich auch. Schaue ihn an. Er blickt hoch zu mir. Jung das Gesicht, Babyhaut, bleich ist er. Ich würde denken, es kocht in ihm, aber er sieht in sich gekehrt aus, fast abwesend. Erinnert mich an meinen Sohn, das Gesicht. Der ist gerade dreiundzwanzig geworden, fährt einen BMW X4, wird auch nicht gerne aufgehalten. Hat aber eine Lebenserwartung von gut achtzig Jahren. Eine Enkelin habe ich auch schon. Die kriegt alles mit bis 2100 oder darüber hinaus. „Ist doch ...“ Ich sage ein vulgäres Wort, das viele Leute ziemlich oft benutzen. „Was kann ich dafür, dass das Klima kollabiert. Das ist nun eben mal so. Ist natürlich ...“, wieder das Wort, „aber ich hab mir nicht ausgedacht, dass es Kohle gibt und Erdöl. Und dass beim Verbrennen CO2 entsteht.“ Stoßweise keuche ich ihm das ins Gesicht, meinem Sohn. „Was kann ich dafür. Dass es so ist. Wie es ist. Warum soll ich was tun. Wo jeder einfach weitermacht. Da kann man als Einzelner nichts machen. Verstehst du das nicht?“
Er schaut mich ziemlich perplex an, glaube ich. Ich spüre mein Herz. Fühlt sich wie ein Schmelzen an. Ist vielleicht ein Anzeichen für eine Krisis, die dem Infarkt vorausgeht. Für einen Moment ist es ruhig um mich. Wie in meinem Auto. Alles wie unter Wasser. Höre dumpf eine Autotür zuschlagen direkt hinter mir. Drehe mich in Zeitlupe um. Der Mann mit dem Lieferwagen hat den anderen Blockierer nicht weit von meinem auf dem Grünstreifen abgelegt, ist zurück zum Auto, wieder eingestiegen.
Taumele. Höre ein Rufen. Von dem Kerl, den ich beiseitegeschafft habe, glaube ich. Wohin es mit mir geht, ist nicht so klar. Zum Auto möchte ich. In meine stille Welt. Chopin hören. Asphalt unter meinen Füßen. Höre die Bienen in meinen Ohren summen, die Nashörner brüllen. Speiübel ist mir. Sticht mich in der Magengegend. Ich sinke zu Boden. Spüre die Straße unter meinen Händen, glatt gescheuert von zahllosen Reifen. Das Herz galoppiert dahin. Ob Nashörner galoppieren? Bienen sicher nicht. Polizeisirenen heulen. Wie Kleinkinder. Meine Enkelin heult auch manchmal. Zum Herzerweichen.
Es hupt. Immer wieder. Ich hebe den Kopf. Direkt vor mir der Lieferwagen. Der andere Fahrer. Er brüllt hinter der Windschutzscheibe. Zeigt mir einen Vogel. Der Motor heult. Vielleicht heult er auch, der Fahrer.
Neben mir, ein Stück entfernt, sitzt der Letzte von den Blockierern. Eine Frau. Die Letzte also. Trägt schnell und gekonnt Kleber auf ihre Hände auf, zwinkert mir zu, wirft die Tube rüber. Will mich die ...? Ihr Gesicht blickt entschlossen, couragiert. Presst die Handflächen auf den Asphalt. Man muss auch mal Courage haben. Weiß ich. Courage kommt von Coeur, Herz, Beherztheit. Weiß ich. Auch ohne Französisch.
Um mein Herz ist es gerade nicht so gut bestellt. Aufstehen geht nicht, ich sitze hier gnadenlos fest. Fühle mich ein bisschen wie ein Nashorn. Kurz vor dem Aussterben.
Das Hupen der Autos gellt mir in den Ohren. Polizisten kommen auf uns zu. Gemessenen Schritts, um die Ordnung wiederherzustellen. Direkt dahinter läuft ein Fernsehteam hektisch herbei, das Mikrofon nach vorne gestreckt, die Kamera routiniert auf die Szene hier gerichtet.
„Verlassen Sie bitte sofort die Fahrbahn. Sollten Sie dem nicht Folge leisten, werden ich und meine Kollegen mit unmittelbarem Zwang nachhelfen.“ Sie brüllt das nicht, das macht man heutzutage als Polizist in Deutschland nicht mehr, die Stimme erhoben hat sie aber schon, um sich bei uns zweien Gehör zu verschaffen.
Die Blockiererin neben mir will nichts dazu sagen, ich kann nicht, weil mir die Luft knapp ist, würde aber schon gerne was sagen, zum Beispiel, dass ich Hilfe gebrauchen könnte. Die Polizei, Ihr Freund und Helfer. Hände hinter dem Rücken der eine, ganz aufrecht, Brust raus, der Fuß wippt ungeduldig. Denen ist sicher die Zeit knapp. Die, die gesprochen hat, trägt einen akkuraten blonden Pferdeschwanz, Blick geht an uns vorbei. Im Moment tun sie noch nichts, vermutlich, weil es eine Vorschrift gibt, uns Zeit zu lassen, Folge zu leisten. Ich versuche, die Hände vom Asphalt zu nehmen, um zu zeigen, dass ich nicht dazugehöre, lasse es aber, als ich umzusacken drohe.
Vom Fernsehteam drängt ein älterer Typ mit Halbglatze nach vorne, die Haare über die Platte frisiert. Kamera und Mikro sind jetzt auf mich gerichtet. „Und Sie, was hat Sie motiviert, die Straße zu blockieren?“ Lokalredakteur mit Hoffnung auf den großen Wurf, vielleicht war es er, der über das Verschwinden der Bienen geschrieben hat.
In meinem Kopf summt es ordentlich. Kann schon sein, dass ich hier nicht alleine wegkomme. Dann müssen die mich tragen. Brauchen sie sicher ein paar Mann für, wenn man bedenkt, was ich auf die Waage bringe.
Der Journalist schaut mich erwartungsvoll an. Angst packt mich am Schlafittchen. Dass das hier schiefläuft, dass ich hier einfach wegsterbe, als letztes Exemplar meiner Art mitten im Scheinwerferlicht der Presse. Tragischer Todesfall bei Klimablockade. Oder: Blockierer beißt in den Asphalt: Wohin Widerstand führt. Der Fernsehtyp wartet einfach auf eine Antwort. Ich kriege keinen Ton raus, spüre aber, wie mir von ganz unten aus dem Bauch ein Lachen in die Kehle kriecht, wie mir der Schweiß in den Hemdkragen rinnt, wie ich langsam auf die Straße niedersinke. Ich weiß, heute Abend bin ich in den Acht-Uhr-Nachrichten.

Felix Wünsche