6. Juli 2024

BLINDES MOTIV

Wolfgang W. Timmler, Berlin 2020


 

Von Wolfgang W. Timmler


I.


ERZÄHLER: Warum wurde einer zum Verbrecher? War es Schicksal? War es Zufall? War die Welt ein künstliches Uhrwerk, wo ein Rad das andere trieb und jedes nur da war, um getrieben zu werden? War der Verbrecher ein Rad im Uhrwerk der Welt? Wer könnte ihn dann richten? Oder war es falsch, die Dinge so von außen zu betrachten?

STAATSANWÄLTIN: Die Zeugen Bruno Büssing und Rudolf Deutz befanden sich mit ihrem Lastzug auf einer Speditionsfahrt nach Moskau. Auf der Fernverkehrsstraße wurden die Zeugen mittels Handzeichen zum Anhalten aufgefordert, wobei der Angeklagte, der mit einer Milizuniform bekleidet war, vortäuschte, dass es sich um eine behördliche Straßenkontrolle handele.

ERZÄHLER: Die Diensträume der Staatsanwaltschaft lagen im ersten Stock eines grauen Kastens, der dringend frische Farbe gebraucht hätte. Hinter den vergitterten Fenstern saßen Menschen wie die Staatsanwältin Ernestine Hoffmann in überheizten Zimmern und suchten den ganzen Tag nach der Wahrheit zwischen den großen und den kleinen Lügen der Menschen.

STAATSANWÄLTIN: Nachdem die Zeugen der Aufforderung nachgekommen waren, bedrohte der Angeklagte die Zeugen unvermittelt mit der Pistole und fesselte den Zeugen Bruno Büssing mit Handschellen ans Lenkrad und stieß den Zeugen Rudolf Deutz in den Kofferraum eines Personenkraftwagens russischer Bauart, der am Straßenrand abgestellt war. Der Angeklagte, der bruchstückhaft deutsch spricht, befahl dem Zeugen Bruno Büssing, den Lastzug zu starten und dem Personenkraftwagen zu folgen. Auf der Fahrt hatte das Fahrzeug des Angeklagten eine Motorpanne, sodass es dem Zeugen Bruno Büssing möglich war, den Lastzug und die Ladung in Sicherheit zu bringen.

ERZÄHLER: Während die Staatsanwältin Ernestine Hoffmann noch einmal ihre Randbemerkungen las, strich sie sich mit einer raschen Handbewegung über das rote Haar, das glatt gekämmt war wie die Wicklungen eines Transformators. Mit Genugtuung stellte sie fest, dass ihre Handschrift kraftvoller war als die krakelige Pulskurve der Kollegin Feuerbach, von der sie den Fall übernommen hatte. Sie stand auf, um das Fenster zu öffnen. Es hatte angefangen zu regnen, und glasige Fäden tanzten um die Lichter der Autos.


II.


STIMME: Dorothea Lessing, bitte melde dich an der Ausleihe. Dorothea Lessing, bitte melde dich an der Ausleihe.

ZOE: Da drüben ist Malwin, der Ex-Freund von Kirsten. Er hat alle in der Klasse zu der Abschlussfete eingeladen, nur sie nicht. Ich kann mich doch nicht blamieren, hat er zu ihr gesagt.

SOPHIE: Zu viel Testosteron, würde ich sagen.

ZOE: Was soll ich machen? Ich habe Schiss, mit ihm zu reden. Ich habe echt Schiss. Zu Saschas Schwester hat er gesagt, er will mit mir reden, also muss er doch anfangen, was zu sagen, oder?

SOPHIE: Sicher.

ZOE: Ich habe wirklich Schiss, Sophie. Ich weiß nicht, was ich machen soll.

SOPHIE: Mit Kirsten bin ich letzthin im „Ariadne“ gewesen.

ZOE: Und wer hat bezahlt?

SOPHIE: Jeder für sich. Ich habe eine Cola getrunken und Kirsten ein San Pellegrino.

ZOE: Kein Perrier?

SOPHIE: Nein, San Pellegrino. Jetzt geht er rüber zu Sascha und den anderen.

ZOE: Siehst du, was er macht?

SOPHIE: Er unterhält sich mit ihnen.

ZOE: Wollen wir nicht rüber zu ihnen? Vielleicht können wir jemand lernen – Quatsch! – kennen! – vielleicht lernen wir jemand kennen, was meinst du?

SOPHIE: Ich weiß nicht, Zoë.

ZOE: Wie findest du Sascha?

SOPHIE: Nett.

ZOE: Nett?

SOPHIE: Ja.

ZOE: Nett ist ein Blablawort, genau wie super.

SOPHIE: Wenn du meinst, Schwesterchen.

ZOE: Was machen die beiden jetzt?

SOPHIE: Nichts. Sie reden. Wir sollten auch mal wieder was zusammen machen.

ZOE: Wie wär’s mit Hausaufgaben, Sophie?

SOPHIE: Super.

ERZÄHLER: Zoë musste lachen. Ihre Stimme klang hell und klar, als würde Wasser ausgeschüttet. In ihrer Heiterkeit stieß Zoë gegen den Aktenwagen der Bibliothek, der mit Kunstbüchern überladen war. Zoë bückte sich nach dem Bildband, der heruntergefallen war, und plötzlich fühlte sie, wie ihre Wangen zu glühen begannen.

ZOE: Sophie?

SOPHIE: Was ist? Warum flüsterst du?

ZOE: Sophie, wer spricht da?

SOPHIE: Ich weiß nicht, was du meinst, Zoë.

ZOE: Hast du denn eben nichts gehört?

SOPHIE: Doch. Ich bin ja nicht taub. Fast hätte ich das Ding noch auf dem großen Zeh gehabt.

ZOE: Das meine ich nicht. Die Stimme! Hast du sie nicht gehört?


III.


SOPHIE: Zoë. Ihr Name sagte alles, auch wenn man sie nicht kannte. Erst summte ein stimmhaftes „ts“ heran, dann kam ein langes „o“, das um sich selbst kreiste, gefolgt von einem langen „ë“ – aber damit war der Name noch nicht zu Ende, denn das lange „ë“ hielt den Namen in der Schwebe, zwischen Wünschen und Fragen. Meine Schwester hatte das Sommersprossengesicht einer Irlandreklame und liebte Strickkleider, die kurz waren wie ein Stromschlag. Ihre Freundinnen behaupteten von ihr, sie sei wankelmütig, aber das war sie nur in Dingen, die klein und unbedeutend waren. Zoë behandelte ihre Sommersprossen mit Zitronen, färbte sich die Haare, änderte den Geschmack. Sie verteidigte die Wahrheit und den freien Willen, aber wenn es ihr gefiel, blieb sie auch bei der Lüge und wies dem Schicksal alle Schuld zu. Zoë las kluge Bücher, weil alles Kluge in Büchern geschrieben steht, und weil meine Schwester nicht dumm war, gab sie sich Malwin gegenüber spröde, obwohl es Liebe auf den ersten Blick war.


IV.


ZOE: Frauen haben Kultur. Sie können Kinder kriegen. Und was können Männer, Malwin? Sich im Gesicht rasieren. Männer bleiben ein Leben lang Männer, aber wir Frauen verwandeln uns alle neunundzwanzigkommafünf Tage. Darum wissen die Männer auch nie, woran sie mit uns gerade sind.

MALWIN: In dem Buch fehlt ein Blatt, Zoë.

ZOE: Wo?

MALWIN: Hundertvierundfünfzig, hundertfünfundfünfzig fehlen.

ZOE: Hier: Hundertvierundfünfzig, hundertfünfundfünfzig. Ich glaube, dir fehlt ein Finger, Malwin.

STIMME: Sascha Humboldt. Bitte melde dich bei der Ausleihe. Sascha Humboldt. Bitte melde dich bei der Ausleihe.

ZOE: Weißt du schon, was du nach der Schule machen wirst?

MALWIN: Fernfahrer.

ZOE: Glaubst du, die Straße hält, was sie verspricht? Der Mittelstreifen sieht doch überall gleich aus, ob du nun durch Italien fährst oder durch Deutschland.

MALWIN: Aber wenn ich Glück habe, lese ich am Straßenrand einen Schauspieler auf. Ich fahre ihn nach Paris, wo er reich und berühmt wird und einen Film über mich dreht.

ZOE: Kannst du so gut Französisch?

MALWIN: Der Film wird bestimmt synchronisiert.

ZOE: Warst du schon mal auf Usedom?

MALWIN: Nein, nur auf „Ecstasy“.

ZOE: Sehr witzig! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie dunkel die Nacht sein kann, Malwin. Du streckst die Hand aus, und sie ist weg, als hättest du sie in einen Sack gesteckt. Solche Nächte gibt es auf Usedom. Du kannst das Meer hören. Die Wellen brechen sich am Strand, aber du kannst es nicht sehen. Es ist verschwunden. Die Nacht hat es verschluckt.

ERZÄHLER: Zoë berührte ganz zufällig Malwins Hand. Er sah sie kurz an, mit einem merkwürdigen Blick, den Zoë nicht zu deuten wusste.

ZOE: Entschuldigung.

MALWIN: Wofür?

ZOE: Es war nicht Absicht.

MALWIN: Ich verstehe nicht, was du meinst.

ZOE: Ich wollte das nicht. Ich glaube, ich habe einen anarchistischen Arm.

MALWIN: Wovon sprichst du?

ZOE: Keine Ahnung.

MALWIN: Wovor fürchtest du dich am meisten, Zoë?

ZOE: Vor der Dunkelheit.

MALWIN: Vor der Dunkelheit selbst? Oder vor etwas, das im Dunkeln auf dich lauert?

ZOE: Vor dem, was ich nicht kenne.

MALWIN: Als ich klein war, habe ich schreckliche Angst vor Vampiren gehabt. Ich glaubte, sie seien überall, hinter dem Vorhang, unter dem Bett, im Schrank.

ZOE: Hast du „Blade“ gesehen, den Horrorfilm, in dem Wesley Snipes die Vampire so zerbröselt, so zzezeschschsch?

MALWIN: Der Film ist krank.

ZOE: Ja, aber die Computertricks sind gut.

MALWIN: Weißt du, wir wohnen direkt unter dem Dach, und eine Zeit lang dachte ich, die Angst käme daher, dass wir so hoch wohnen wie die Vögel, aber dahinter steckte etwas anderes ---

ZOE: Etwas, das du nicht gewusst hast?

MALWIN: Genau.


V.


ERZÄHLER: Wer kann voraussagen, ob der Name sich tatsächlich auf das Geschick eines Menschen auswirkt? Als der Rangierer Ferdinand Joseph Waldseemüller beschloss ---

STAATSANWÄLTIN: Pst!

ERZÄHLER: Seine Kinder Thaddäus und Thekla zu nennen, waren die Namen in seinen Kreisen bereits so selten geworden, dass ihre Kenntnis schon als ein Zeichen von Bildung galt ---

STAATSANWÄLTIN: Pst!

ERZÄHLER: In der Familie Waldseemüller hatte freilich noch niemand diese Namen getragen.

STAATSANWÄLTIN: Pst!

ERZÄHLER: Was ist denn?

STAATSANWÄLTIN: Das sage doch ich.

ERZÄHLER: Aber nein ---

STAATSANWÄLTIN: Aber doch.

ERZÄHLER: Das steht --- das steht ja gar nicht auf meinem Blatt.

STAATSANWÄLTIN: Sag ich doch.

ERZÄHLER: Das Wort hat die Staatsanwältin Ernestine Hoffmann.

STAATSANWÄLTIN: Danke. Wer kann voraussagen, ob der Name sich tatsächlich auf das Geschick eines Menschen auswirkt? Als der Rangierer Ferdinand Joseph Waldseemüller beschloss, seine Kinder Thaddäus und Thekla zu nennen, waren die Namen in seinen Kreisen bereits so selten geworden, dass ihre Kenntnis schon als ein Zeichen von Bildung galt. In der Familie Waldseemüller hatte freilich noch niemand diese Namen getragen. Nach der Familientradition erhielten der älteste Sohn und die älteste Tochter die Namen der Großeltern. Ferdinand Waldseemüller setzte sich bewusst darüber hinweg und verstand in dieser Sache keinen Spaß. Dass Ferdinand Waldseemüller Rangierer geworden war und nicht Landvermesser, führte er unter anderem darauf zurück, dass er den Namen eines Tagelöhners hatte. Nun musste der Sohn die Last des väterlichen Ehrgeizes auf sich nehmen. Thaddäus Joseph Waldseemüller wurde nicht Gärtner, wie er eigentlich gewollt hatte, sondern Disponent in der Spedition „Continental“. Mit verlorenem Blick schalt sich Thaddäus Waldseemüller einen Feigling, einen Versager, aber als er selbst Vater geworden war und Ferdinand Waldseemüller ihm feierlich erklärte, dass er an der Familientradition festzuhalten habe, demütigte Thaddäus Waldseemüller den Alten, indem er das Kind auf den Namen Malwin Maria taufen ließ.


VI.


REPORTERIN: Ich begrüße Sie zur Sendung „Witwen im Profil“. Mein Name ist Uschi Neumann, und ich bin heute zu Gast bei Maria Waldseemüller. In der Mansardenwohnung von Frau Waldseemüller scheint die Zeit stehen geblieben zu sein --- die Schwarzwälder Kuckucksuhr, das Hochzeitsbild, die Bücher über Gartenbau, fast alles befindet sich noch an selbem Platz wie vor zehn Jahren, als Frau Waldseemüller ihren Mann verloren hat. Die kleine Wohnung wirkt ärmlich, aber sauber und gepflegt. Die antike Göttin auf dem Fernseher ist ---

STAATSANWÄLTIN: Italienisches Kunstharz ---

REPORTERIN: Der Eichenholzschrank im Wohnzimmer ---

STAATSANWÄLTIN: Deutsches Pressspanfurnier ---

REPORTERIN: Nur die Arbeiterklasse ist echt. Es gibt Kaffee und Kuchen. Frau Waldseemüller verwöhnt mich, doch sie ist keine Frau, die es allen recht machen will.

MUTTER: Ich hasse Streit, aber wenn es sein muss, gehe ich ihm nicht aus dem Weg.

REPORTERIN: In Jeans und Pullover wirkt Frau Waldseemüller mädchenhaft jung, trotz ihrer neununddreißig Jahre. Frau Waldseemüller, Sie haben einen Sohn?

MUTTER: Malwin will von der Geschichte nichts mehr hören. Das müssen Sie verstehen. Welches Kind möchte schon daran erinnert werden, dass der Vater gestorben ist?

REPORTERIN: Frau Waldseemüller, in der Todesanzeige haben Sie damals den Vorwurf erhoben, dass Ihr Mann im Stich gelassen worden sei.

MUTTER: Ich will hier keine Namen nennen, aber mein Mann wurde in den Tod getrieben. Er war Opfer.


VII.


ERZÄHLER: Zuerst wusste Malwin nichts über Bruno Büssing. Er jagte einer Spukgestalt nach, von der er nur den Namen kannte. Er fragte alle aus, auch Rudolf Deutz, der in derselben Spedition gearbeitet hatte wie sein Vater. Den ersten Besuch bei Rudolf Deutz würde Malwin nie vergessen. In den Häusern brannte bereits Licht und irrlichterte zwischen den kahlen Ästen. Beide saßen da und rauchten. Eine Stunde lang sprachen sie fast kein Wort. Malwin musste dringend aufs Klo, aber er blieb sitzen. Er ahnte, dass hier ein Kräftemessen stattfand, und er bestand. Rudolf Deutz zeigte ihm, wie Bruno Büssing sich die Zigarette ansteckte, und Malwin prägte sich alles ein. Erst klopfte Bruno Büssing den Tabak fest, dann befeuchtete er das Papier mit der Zunge ---

DEUTZ: Halt, nicht auf der Seite, auf der anderen, sonst platzt die Hülse und der Tabak quillt raus wie aus einem kaputten Puppenhals.

MALWIN: Igitt. Warum macht er das?

DEUTZ: Weil es sonst keiner macht.

MALWIN: Das ist ja Subkultur.

DEUTZ: Du solltest die Haare in der Stirn etwas kürzer tragen.

MALWIN: Das ist nicht mehr modern.

DEUTZ: Es macht aber mächtig Eindruck bei den Mädels. Glaub mir, Malwin.

MALWIN: Die Frisur trägt heute kein Mensch mehr – nicht mal ein Fußballer.


VIII.


ERZÄHLER: Malwin wollte die Wahrheit wissen. Von diesem Punkt würde er sich nicht mehr entfernen. Für ihn war die Wahrheit kurz und gerade wie ein Streichholz, und Maria Waldseemüller wirkte beinahe traurig, als wollte sie sagen, wie verdorben musste der Mensch sein, der einen solchen Gedanken in sich aufkeimen lassen konnte. Schweigend sah sie zu, wie Malwin eine Zigarette an der Spitze anfeuchtete, wie er ein Streichholz anriss, sich etwas nach vorne beugte, mit den Händen einen Kelch formte, um die Flamme zu schützen ---

MUTTER: Er schützt die Flamme gegen den Wind, der Kindskopf, hier in der Küche, wo kein Wind weht. Warum macht der Junge das? Sein Vater hätte so etwas nie getan. Sein Vater wusste stets, wie man sich zu benehmen hatte. Malwin ist ein großes Kind. Er zweifelt an allem und will alles wissen, aber einsehen oder begreifen will er es nicht.

ERZÄHLER: Wenn sie sich jetzt ganz ruhig verhielt, würde sich vielleicht wieder alles einrenken, dachte Maria Waldseemüller. Sie würde ein Bad nehmen, irgendwann, mitten in der Nacht, würde sie heißes Wasser einlaufen lassen, den Körper eintauchen, bis er sich ganz weich anfühlte wie eine Beere ---

VATER: Wovor hast du Angst, Maria?

ERZÄHLER: Maria Waldseemüller riss sich zusammen und schickte die Stimme ihres verstorbenen Mannes weg.

VATER: Wovor, Maria?

ERZÄHLER: Maria Waldseemüller stellte sich taub. Es war die einzige Möglichkeit, die Fassung zu bewahren. Es war nicht leicht, aber es klappte, denn sich zu bekennen, hätte bedeutet, sich freizumachen von den kleinen und großen Lügen, aber das konnte sie nicht. Maria Waldseemüller wusste, dass nicht die Spur eines Geheimnisses sie umgab. Alles lag offen zutage. Es gab kein Geheimnis. Alles sprach gegen sie. Trotzdem würde sie sich nicht demütigen lassen. Sie wusste, was sie getan hatte, aber sie würde stumm bleiben, um den Halt nicht zu verlieren. Sie würde sich selbst festhalten. Es würde keine Ausflüchte, keine weiteren Lügen geben. Ohne ein Wort zu sagen, stand Maria Waldseemüller auf und verließ die Küche.


IX.


BÜSSING: Die Erde ist ein Glücksfall, Maria. Und warum sollte sich der Glücksfall nicht schon längst woanders ereignet haben? Und was ist mit den Statuen auf den Osterinseln? Woher kommen die? Und wer hätte je gedacht, dass wir Anti-Materie erschaffen würden? Es ist eben alles nur eine Frage der Zeit. Das ist doch logisch. Und obwohl wir auf dem Mond gewesen sind – wieso lachst du, Maria?

MUTTER: Du hast „wir“ gesagt, Bruno.

BÜSSING: Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt, Maria. Jetzt habe ich den Faden verloren. Wo war ich stehen geblieben?

MUTTER: Auf dem Mond, Bruno.

BÜSSING: Richtig. Und obwohl wir bereits auf dem Mond gewesen sind, haben die Wissenschaftler viele Rätsel der Welt nicht lösen können, zum Beispiel den Fluch des Pharaos ---

MUTTER: Oder warum du die Zigaretten ableckst.


X.


ERZÄHLER: In der Nacht weckte ein Geräusch Maria Waldseemüller aus dem Schlaf. Sie schlug die Decke zurück und ging auf Zehenspitzen in Malwins Zimmer, um nachzusehen, was los war. Es war nicht wie sonst, wenn sie die Frage aus dem Schlaf gerissen hatte und sie nach nebenan schleichen ließ, um dann leise zurückzukehren, ohne eine Antwort auf die Frage gefunden zu haben, und wieder einzufahren in die Traumgrube. Sie betrachtete Malwin. Er hatte die Augen geschlossen und atmete gleichmäßig. Maria Waldseemüller hob das Buch auf, das zu Boden gefallen war. Sie flüsterte Malwins Namen, aber er antwortete nicht. Er schlief tief und fest. In dieser Nacht erkannte sie ihn. Im Halbdunkel wirkten die Gesichtszüge verzerrt, aber sie erkannte ihn. Als Maria Waldseemüller wieder im Bett lag, versuchte sie, sich zu erinnern, an alles, an die Worte, die Thaddäus Waldseemüller gesagt hatte, wenn sie sich liebten. Hatte er die Augen geschlossen? Es fiel ihr nicht ein. Sie wollte sich erinnern, aber sie konnte nicht. Sie fand kein Wort, das die Lust zurückholte. Ihr innerer Blick streifte durch einen grün gekachelten Raum. Auf einem Tisch lagen Zangen und Spritzen. Ein künstliches Siebengestirn spendete kristallklares Licht. Maria Waldseemüller hatte Angst. Etwas wie Kälte griff nach ihr und schüttelte sie. War es der Schmerz? Maria Waldseemüller konnte sich nicht erinnern.


XI.


MUTTER: Thaddäus? Was ist los?

VATER: Nichts. Ich habe heute früher Schluss gemacht. Wo ist der Junge?

MUTTER: Bei Thekla. Soll ich ihn holen?

VATER: Später.

MUTTER: Thaddäus, ich sehe dir doch an, dass etwas nicht stimmt.

VATER: Es ist nichts, Maria.

MUTTER: Du willst nicht darüber sprechen?

VATER: Nein.


XII.


ERZÄHLER: In dieser Nacht fragte sich Maria Waldseemüller auch, warum sie sich für Francesco Toscanelli entschieden hatte und nicht für Bruno Büssing. Weil Francesco Toscanelli zufällig in derselben Fabrik beschäftigt war? Weil sie täglich denselben Lärm und Staub schluckten? Hatte sie den Einsteller Francesco Toscanelli geliebt? Maria Waldseemüller wälzte sich hin und her und dachte angestrengt nach. Sie konnte sich nicht erinnern. Sie hatte gedacht, es würde ihr Genugtuung geben, wenn Francesco Toscanelli bei ihnen einzog, und vielleicht hätte es auch geklappt, wenn sie allein gewesen wäre. Francesco Toscanelli war nie laut geworden wie Bruno Büssing, und er hatte sich gut mit Malwin verstanden, aber Maria Waldseemüller hatte bald gemerkt, dass die Gefühle der Erwachsenen nichts waren im Vergleich mit dem Leid des Jungen.


XIII.


MUTTER: Guten Morgen, Francesco.

FRANCESCO: Guten Morgen, Maria.

MUTTER: Ausgeschlafen?

FRANCESCO: Aufgehört.

MUTTER: Was möchtest du zum Frühstück?

FRANCESCO: Ganz egal.

MUTTER: Ich koch dir ein Ei.

FRANCESCO: Wunderbar. Deutsches Frühstück: Brötchen, Marmelade, Kaffee.

MUTTER: Das Ei hart oder weich?

FRANCESCO: Hart, bitte. Schläft Malwin noch?

MUTTER: Ja.

FRANCESCO: Wie spät ist es denn?

MUTTER: Halb acht.

FRANCESCO: Muss Malwin heute nicht zur Schule?

MUTTER: Möchtest du, dass er heute zur Schule geht?

FRANCESCO: Ich denke, er muss.

MUTTER: Samstags haben die Kinder keine Schule, Francesco.

FRANCESCO: Das habe ich ganz vergessen.


XIV.


ERZÄHLER: Es war noch dunkel, als Malwin sich auf den Weg machte. Die Scheinwerfer der Autos waren eingeschaltet. Rote und weiße Blumen aus Licht strömten durch die Straßen. Der Ort konnte ihm nichts mehr anhaben. Er war nur noch das Staunen, wenn er den Atlas aufschlug, um die fremden Städtenamen durchzubuchstabieren.

MALWIN: Tallinn, Riga, Kaliningrad, Gdansk, Szczecin, Pasewalk, Anklam, Usedom.

ERZÄHLER: Im langen schmalen Gang des Waggons zwängte sich Malwin an einem Mann vorbei, der an einer gestreiften Krawatte herumschraubte und das Lächeln im Gesicht neu faltete. Er war einer von diesen Trenchcoat-Typen, die nach Rasierwasser dufteten und nie schmutzige Fingernägel hatten. Malwin setzte sich in ein leeres Raucherabteil. Er steckte sich eine Zigarette an und riss das Fenster auf. Über den Dächern der Stadt brannte Feuer. Ein Moped hustete blaue Rauchklümpchen. Langsam begann der Tag aufzublenden. In den Häusern gingen die Lichter aus. Zoë würde staunen, dass er den Frühzug nicht verpasst hatte. Malwin begrüßte sie mit einem Kuss auf die Wangen, ohne dass sein Mund ihr Gesicht berührte. Der Schmatzlaut flog an ihrem Ohr vorbei. Einen Wimpernschlag lang war Zoë irritiert. Sie nahm eine Haarsträhne in die Hand, zwirbelte sie und kaute darauf herum. Im Wohnzimmer begann jemand Klavier zu spielen.


XV.


MALWIN: Du machst Tee?

ZOE: Ja, wieso?

MALWIN: Das Wasser brennt an.

ZOE: Verflixt!

MALWIN: Wer spielt denn bei euch Klavier?

ZOE: Meine kleine Schwester. Sie übt jeden Tag eine Stunde, aber ich finde, Sophie hat das Ohr von Van Gogh für dieses Stück.

MALWIN: Wie alt ist deine Schwester?

ZOE: Dreizehn.


XVI.


SOPHIE: Hallo, ihr zwei beiden! Hat jemand eine Zigarette für mich?

ZOE: Malwin, das ist Sophie. Sophie, das ist Malwin.

MALWIN: Hallo.

SOPHIE: Hallo.

MALWIN: Hier, bedien dich.

SOPHIE: Danke. Extra leicht?

ZOE: Beim Ziehen schielen Sie extra leicht. Die EU-Gesundheitsminister.

SOPHIE: Selten so gelacht, Schwesterchen! Danke, Malwin. Zoë, jetzt guck doch nicht so! Wenn du nachher lüftest, merkt Mama nichts.

MALWIN: Zoë, bist du kurzsichtig?

ZOE: Wie kommst du darauf, Malwin?

MALWIN: Ohne Brille gucken Kurzsichtige immer ganz böse.

SOPHIE: Stimmt genau! Wie man auch mit Leuten, von denen man weiß, dass sie kurzsichtig sind ---

ZOE: Du guckst aber nicht böse, Sophie.

SOPHIE: Soll ich die Brille abnehmen, Zoë?

ZOE: Nein, tu’s nicht.

SOPHIE: Wie man auch mit Leuten, von denen man weiß, dass sie kurzsichtig sind, automatisch lauter spricht ---

MALWIN: Quatsch!

SOPHIE: Kein Quatsch, sondern Tucholsky.


XVII.


SOPHIE: Mit Malwin konnte meine Schwester über alles sprechen. Es gab keine Geheimnisse, wenigstens keine, die ihn betrafen. Zoë war noch mit niemand so vertraulich gewesen und sprach mit ihm über Sachen, die sie sich selbst noch nicht klargemacht hatte. Meine Schwester war gern bei ihm, und Malwin lachte auch an den richtigen Stellen, aber irgendwie schien sich Malwin ihrer Liebe noch nicht so recht bewusst zu sein.


XVIII.


ERZÄHLER: Malwin musste sich entscheiden. Jetzt oder nie. Er setzte sich mit Kirsten an einen der hinteren Tische, um die Leute besser beobachten zu können. Am Nachbartisch sprachen zwei lila getönte Urgroßmütter über den Tod. Totsein hieß für sie, nie wieder ins Café gehen zu können.

KIRSTEN: Was wolltest du vorhin sagen?

MALWIN: Ich hab’s vergessen, Kirsten. Es muss wohl eine Lüge gewesen sein.

KIRSTEN: Ich finde, wir sollten miteinander reden, Malwin.

MALWIN: Tun wir doch.

KIRSTEN: Du weißt, was ich meine, Malwin. Warum können wir nicht darüber sprechen?

MALWIN: Jetzt nicht, Kirsten.

KIRSTEN: Sag nicht „jetzt nicht“, Malwin. Sag es offen, und dann ist es okay!

ERZÄHLER: Malwin streute drei große Löffel Zucker in den Tee und rührte um. Der Zucker wirbelte wie ein Schneesturm durchs Glas. Malwin fragte sich, wie es kam, dass er etwas tun und es auch sein lassen konnte. Wenn ein Zuckerkristall einen anderen anstieß, dann bewegte sich der andere in dieselbe Richtung wie der erste. Man nahm sich etwas vor und er führte es dann auch aus, aber wie verhielt es sich, wenn man sich nicht mehr frei entscheiden konnte? Vielleicht bewegte sich dann der andere Zuckerkristall, bevor er vom ersten angestoßen wurde, aber wie war so etwas möglich?


XIX.


REPORTERIN: Sie haben die Sendung „Witwen im Profil“ eingeschaltet. Mein Name ist Uschi Neumann, und wir sind heute zu Gast bei Maria Waldseemüller. Frau Waldseemüller, wie würden Sie sich selbst einschätzen als Mutter? Ich frage dies deshalb, weil Ihr Sohn doch vor Kurzem ausgezogen ist.

MUTTER: Als Mutter bin ich eine Dampfwalze. Ich habe Malwin auf die Oberschule gedampfwalzt. Und wenn der Junge nach meinem Tod nicht so viel vorfindet wie erwartet, dann soll er daran denken, dass eine Arbeiterin nicht so viel verdient.

REPORTERIN: Was vermissen Sie heute am meisten, Frau Waldseemüller, wenn Sie zurückblicken?

MUTTER: Mein Mann und ich haben sehr ähnlich gedacht. Wir haben dieselben Filme gemocht. Manche dieser französischen Komödien fangen ganz harmlos an, aber am Ende ist man doch gerührt, ohne dass es einen traurig macht. In den Filmen ist alles leicht und ein wenig verdreht, fast wie im wirklichen Leben. Wenn ich dann in der Fabrik an der Stanzmaschine sitze, meine siebzehn Handgriffe mache, dann verschmelzen manchmal die Dinge rings um mich her mit den Bildern, die ich im Kino gesehen habe.

REPORTERIN: Der Tod Ihres Mannes sei nicht Schicksal gewesen, sagten Sie vorhin.

MUTTER: Mein Mann war Opfer. Das steht für mich fest.

REPORTERIN: Frau Waldseemüller, Sie sind aber nun keine Frau, die nur in der Vergangenheit lebt. Von Francis Bacon stammt der Satz: „Geschehen ist geschehen und unwiederbringlich.“ Könnten Sie sich einen anderen Mann in ihrem Leben vorstellen?

MUTTER: Warum nicht? Aber die Liebe lässt sich nicht zwingen. Es hat mal einen gegeben, doch der hat zu weit weg gewohnt.


XX.


STAATSANWÄLTIN: Thaddäus Waldseemüller war um die Mittagszeit nach Hause gekommen. Er hatte das Fahrrad unten im Hausflur abgestellt und war nach oben gegangen. Die Familie wohnte direkt unter dem Dach.

ERZÄHLER: Und während Thaddäus Waldseemüller die Treppe hinaufstieg, horchte er auf die Geräusche vom Bahnhof. Eine Diesellok rangierte, kuppelte Waggons zusammen. Es war schlecht, so hoch zu wohnen, wo die Menschen doch so tief stürzen konnten, dachte Thaddäus Waldseemüller. Vom Güterbahnhof drang ein Brausen und Donnern herüber, das alle Fensterscheiben im Haus zum Klirren brachte. In der dunklen Diele stolperte Thaddäus Waldseemüller über Malwins Teddybär, der „bäh“ zu ihm sagte, als er das Licht anknipste.

STAATSANWÄLTIN: Die Wohnung wirkte aufgeräumt, aber die Misere war unübersehbar. Alles hier war auf Raten gekauft, der Wohnzimmerschrank, die Couchgarnitur, der Fernseher, das Schlafzimmer, einfach alles. Teure Sachen kannte die Familie nicht.

ERZÄHLER: Und was die Familie nicht kannte, vermisste sie auch nicht, dachte Thaddäus Waldseemüller, aber hier irrte er sich. Das Leben, welches die Familie Waldseemüller führte, war die Antwort auf die Frage, was die Nachbarn besaßen und was nicht. Ein ständiger Streit war die Folge, und Thaddäus Waldseemüller hatte es bald aufgegeben, seiner Frau zu widersprechen. Er litt still vor sich hin. Sein Ich begann um sich selbst zu kreisen, bis die schwache Schwerkraft der Familie es nicht mehr festzuhalten vermochte. Während Thaddäus Waldseemüller sich in der Küche Kaffee machte, war ihm, als würden zwischen den schrägen Wänden alles zusammenfließen, das lautlose Geschiebe der Wolken, der süßliche Himbeerduft der Marmelade, das fette Rot der Geranien, alles war von derselben Art, ohne klare Kontur wie die unscharfe Fotografie, die auf dem Küchenschrank stand.

STAATSANWÄLTIN: Die Fotografie zeigte eine junge Frau, seine Frau. Maria Waldseemüller trug etwas auf dem Arm, das eingewickelt war wie ein Blumenstrauß.

ERZÄHLER: Aus ihrem Lächeln glaubte Thaddäus Waldseemüller alle möglichen Bedeutungen herauslesen zu können. Etwas Unheilvolles schien hinter ihrem freundlichen Blick zu lauern, und er hatte den Eindruck, als hätte Maria Waldseemüller ihm zugezwinkert, damit er ins Schlafzimmer ging. Das Klingeln an der Wohnungstür hörte Thaddäus Waldseemüller schon nicht mehr ---

MUTTER: Mein Mann hatte den Schlüssel innen stecken lassen, und ich konnte die Tür nicht aufschließen.

STAATSANWÄLTIN: Später gab Maria Waldseemüller zu Protokoll, dass sie, die hier in der Gottlieb-Daimler-Straße 3 wohnende Maria Johanna Waldseemüller ---

MUTTER: Nein, Hochgerichtstraße, nicht Gottlieb-Daimler-Straße --

STAATSANWÄLTIN: Ah ja, Hochgerichtstraße.

MUTTER: Dass sie das verwechseln als Staatsanwältin! Ihnen muss doch Hochgericht viel näher sein.

STAATSANWÄLTIN: Ich wohne ziemlich weit draußen. Dort braucht man eher ein Auto als ein Schafott. Aber was haben Sie damals zu Protokoll gegeben?

MUTTER: Ich, die hier in der Hochgerichtstraße 3 wohnende Maschinenarbeiterin Maria Johanna Waldseemüller, habe gemeinsam mit dem Polizeiwachtmeister Hermann Paul Däumling und dem Schlossermeister Willy Arthur Fichtner, mittags, gegen dreiviertel zwölf, meinen Ehemann Thaddäus Joseph Waldseemüller im Schlafzimmer tot aufgefunden.

ERZÄHLER: Und dann war es dunkel geworden im Schlafzimmer, und Maria Waldseemüller wollte schon das Licht anmachen, als sie die Kälte fühlte und das offene Fenster sah und den Zettel, der mit einer Hosenklammer beschwert war, damit er nicht von der Kommode geweht wurde, wenn die Tür ging und ein Durchzug entstand ---

VATER: Vergebt mir, verzeiht mir.

ERZÄHLER: Später saßen die Nachbarin und Maria Waldseemüller in der Küche und tranken Kaffee, seinen Kaffee. Thaddäus Waldseemüller hatte sich ihn noch gemacht und stehen lassen. Zuerst dachte Maria Waldseemüller, dass so ein Selbstmord das Ende sei, aber das Leben ging weiter, und schon bald begriff sie, dass der Tod nicht das Ende war, sondern der Anfang von einem anderen Leben.


XXI.


PRIESTER: Wie verdorben muss der Mensch sein, der einen solchen Gedanken in sich aufkeimen lassen kann. Du sollst nicht töten, sagt das fünfte Gebot, und Jesus wiederholt diese Worte in seiner Bergpredigt, in der er seine Religion gestiftet hat. Haltet daran fest, befolgt die Grundsätze, zu der seine Religion ermuntert, und bekämpft das, was sie verbietet, vor allem die Leidenschaft, die Mann und Weib unglücklich macht. Oh, es ist schrecklich, wenn man bedenkt, dass der Mensch so tief fallen kann!


XXII.


ERZÄHLER: Was es noch zu sagen gab, war auf die Kranzschleifen in Goldlettern geschrieben. Maria Waldseemüller stand da, die Hand des Jungen in der ihren, und sah in die Gesichter. Sie hatte sich gefürchtet, aber sie wich den Blicken nicht aus. Stumm ertrug sie die Tyrannei der Gesichter. Eine Woge von dunklen Gestalten strömte aus der Kirche, rollte über die weißen Kieswege und verlief sich zwischen den Bäumen. Einen Augenblick lang war es still, keine Wolke, kein Blatt bewegte sich, dann setzte die Musik ein. Die dunklen Gestalten lösten sich in Nebel auf. Maria Waldseemüller rührte sich nicht, kein Seufzer, kein Wehklagen kam über ihre Lippen. Sie drückte Malwins Hand fester und las die Worte auf den Kranzschleifen. Sie las sie wieder und sah hinüber zur Kirche. Was sie gelesen hatte, kam ihr absurd vor, völlig absurd. Kleine Spalten taten sich auf zwischen den Goldlettern, und die Worte zerfielen zu nichts. Ihr Blick schweifte unruhig hin und her und blieb auf dem Kruzifix hängen, das im Dickicht schimmerte wie eine tropische Pflanze und alles miteinander verband, die Wut, die Trauer, den Schmerz. Vielleicht wäre alles gut geworden, wenn Maria Waldseemüller über ihren Schmerz hätte sprechen können, aber als die Schwägerin Thekla ihr den Gruß verweigerte und sie sich kalt von ihr abwandte, senkte sich der Schmerz tiefer und tiefer in sie hinab und stieß wie ein Vampir mit spitzen Fingerdolchen zu, bis er als Schrei von Malwins Lippen flog und im Blau des Himmels verschwand.


XXIII.


TANTE: Du machst Sachen, Malwin. Wieso hast du nicht vorher angerufen?

MALWIN: Ich weiß nicht, Tante Thekla.

ERZÄHLER: Tante Thekla, das war der Rhythmus der Kindheit, das waren Nachmittage in Strümpfen und Sonnenstaub, das war das Schleifen und Klingeln der Straßenbahn, das Surren von Gummireifen auf nassem Asphalt. Als Malwin klein war, hatte er Münzen auf die Schienen gelegt vor dem Haus.

MALWIN: Kla-klack ---

ERZÄHLER: Hatte das Geld geklagt.

MALWIN: Kla-klack kla-klack.

ERZÄHLER: Und dieses Kla-klack war zum Rhythmus von Malwins Kindheit geworden.

MALWIN: Kla-klack kla-klack.

ERZÄHLER: Malwin war wieder klein und hockte im Wohnzimmer auf dem Perserteppich, auf dieser blühenden Insel im unendlichen Parkett, diesem kalten Spiegelmeer, das niemals mit Straßenschuhen ---

TANTE: Malwin, hast du die Schuhe ausgezogen?

MALWIN: Ich weiß doch, was sich bei Muslimen gehört, Tante Thekla.

TANTE: Das habe ich nicht gehört, Malwin!

ERZÄHLER: Malwin war wieder klein und hockte unter dem Wohnzimmertisch und erstickte seinen Teddybär mit tödlichen Bohnerwachs-Gas. Tante Thekla stand in der Küche und kochte sich Kaffee. Ihm machte sie Kakao. Sie setzte sich an den Wohnzimmertisch, und Malwin musste rechts von ihr Platz nehmen. Er bekam ein Butterbrot. Hastig biss er kleine Halbmonde hinein, ohne den Blick von den Streichholzschachtel abzuwenden, die neben dem Kuchenteller der Tante lag. Endlich erlaubte sie ihm, ein Streichholz anzureiben.

TANTE: Danke, Malwin. Du bist ja schon ein richtiger kleiner Kavalier.

ERZÄHLER: Und während die Tante rauchte, erzählte sie ihm Familiengeschichten wie die von Tante Miltraud und ihrem Verlobten. Sieben Jahre waren sie verlobt, hatten die Möbel, das Geschirr, die Wäsche, alles hatten sie schon gekauft, aber den Hochzeitstermin dauernd verschoben, weil er Musiker war und mit dem Orchester ständig auf Tournee gehen musste, und wie er von einer längeren Tournee zurückkam und ganz komisch war, ahnte Tante Miltraud schon, dass er eine Freundin hatte, aber er wollte es nicht zugeben, erst als die Freundin von ihm ein Kind bekam, einen kleinen Wurm, der geistig behindert war und nie sprechen würde ---

TANTE: Ist das nicht furchtbar, Malwin?

ERZÄHLER: Sie sah den Jungen fragend an. Malwin überlegte, ob Tante Miltraud den kleinen Jungen in ein Weckglas gesperrt hatte. Nicht dass ihm vor Würmern gegraust hätte, ganz im Gegenteil, er konnte sie stundenlang betrachten, aber er konnte sie nicht anfassen, die Würmer nicht und auch nicht das Weckglas. Tante Thekla nahm eine neue Zigarette aus der Packung.

TANTE: Danke, Malwin.

ERZÄHLER: Hustend teilte Tante Thekla die Welt in klack, klack kleine Stücke, in Arme und Gute und Ungerechte und Gerechte. Trotzdem war Malwin gerne bei ihr, nur um ihr zuzuhören, ohne viel zu begreifen, bis zu dem Tag, als er ihr auf dem Friedhof begegnet war, als ihre Stimme fremd klang, wie aus der Ferne kam und er ganz deutlich den Hass in ihren Augen erblickte, den nichts verhüllte, und obwohl seither viele Jahre vergangen waren, sah er ihren Blick noch ganz deutlich vor sich wie auf einer riesigen Kinoleinwand.

TANTE: Du kannst glauben, was ich sage, Malwin. Das ist die volle Wahrheit.

MALWIN: Tu ich doch.

TANTE: Ja, da war was zwischen diesem Bruno Büssing und deiner Mutter, das war nicht bloß Bekanntschaft. Das war richtige Liebe.

MALWIN: Das ist merkwürdig, wieso sie dann sagt, sie weiß nichts?

TANTE: Oh, die weiß es doch am besten.

MALWIN: Nein, wieso sagt sie, sie weiß nicht, woher das Gerücht stammt, aber du weißt es, Tante Thekla?

TANTE: Ja, das wissen doch alle, die ganze Stadt hat darüber gesprochen.

MALWIN: Sie will es nicht zugeben?

TANTE: Nein, sie will es nicht zugeben, und es ist doch auch eine Schande. Das gehört sich nicht. Dein Vater war so ein feiner Mensch, so feinfühlig und gebildet. Das war er. Das muss man ihm lassen, Malwin. Nein, das ist eine große Schande. Darüber spricht man nicht, aber die ganze Stadt hat darüber geredet. Das ist doch klar. Danke, Malwin. Trotzdem darfst du sie nicht hassen.

MALWIN: Gott bewahre.

TANTE: Das darfst du nicht, Malwin.

MALWIN: Nein, ich hasse sie nicht, Tante Thekla, aber ich werde ihr aus dem Weg gehen.

TANTE: Der Mensch, der unter die Mörder gefallen war, konnte auch nicht fliehen.

MALWIN: Ich kenne die Geschichte.

TANTE: Und dann weißt du auch, dass das gut für ihn war, denn er wurde gerettet.

MALWIN: Ich brauche keinen Samariter, Tante Thekla.

ERZÄHLER: Malwin betrachtete das Foto, das ihn und den Vater zeigte. Die Aufnahme hatte ein Fotograf im Atelier gemacht. Malwin saß auf einem Stuhl und hielt seinen Stoffbär in den Händen. Der Vater stand und hatte eine Hand auf Malwins Schulter gelegt. Malwin lächelte glücklich in die Kamera, während der Vater den Blick gesenkt hielt, als blendeten ihn die Scheinwerfer, aber es waren nicht die Scheinwerfer, sondern die schwarze Sonne, die in seinem Kopf schien.

MALWIN: Hast du für mich eine Zigarette, Tante? Danke.

ERZÄHLER: Sich mit dem Vater in einem fremden Album vereint zu sehen, versetzte Malwin einen Stich. Die Tante und er wechselten stumme Blicke. Malwin überlief es heiß und kalt, und er musste schlucken. Er stand auf und trat ans Fenster und wischte sich die Tränen ab und setzte sich wieder und stand erneut auf. Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, den Vater rächen zu müssen. Empört wies er den Gedanken von sich und redete sich ein, die Worte und den Blick der Tante falsch gedeutet zu haben, diesen forschenden Blick und das Glitzern in ihren Augen, das nicht von dem bernsteinfarbenen Licht stammte, welches die Nachmittagssonne über den Wohnzimmertisch breitete, das Glitzern kam von woandersher, irgendwo aus ihrem Innern. Der Gedanke ging Malwin im Kopf herum, und er nahm sich vor, den Mann zu suchen. Er würde ihm nichts tun. Er würde sich von den Gefühlen nicht verwirren lassen. Er wollte ihn nur sehen, vielleicht mit ihm sprechen. Mehr nicht. Als Malwin den dunklen Hausflur verließ und ins Freie trat, blendete ihn die Sonne. Einen Moment lang hielt er die Hand vors Gesicht, um sich an das grelle Licht zu gewöhnen. Wie in einer fotografischen Lösung begannen sich die Konturen der Wesen und Dinge allmählich zu klären. Als die Straßenbahn kam, winkte er kurz der dunklen Gestalt am Wohnzimmerfenster und stieg ein.


XXIV.


DEUTZ: Es ist gefährlich draußen, Malwin. Gestern habe ich die Tür aufgemacht und gleich wieder zugemacht. Es gibt kein beschisseneres Gefühl als Angst. Was hast du da? Rotwein? Nein, Malwin, trinken wir lieber Bier.

MALWIN: Ich kriege Kopfschmerzen von Bier.

DEUTZ: Die Kopfschmerzen bekommst du nicht vom Bier, sondern vom Denken.

MALWIN: Vom Denken kriegt man Kopfschmerzen?

DEUTZ: Wenn man es nicht gewohnt ist. Malwin, das mit deiner Mutter renkt sich wieder ein, aber ich habe mal mit ihm einem Streit gehabt, das habe ich noch nie erzählt. Ich bin vor Jahren, da hat dein seliger Vater noch gelebt, mit Bruno Büssing auf Speditionsfahrt gewesen. Wir mussten sieben nagelneue BMWs nach Moskau bringen. Unterwegs hält uns ein Milizionär an. Merkwürdig, sage ich zu Bruno, dass der Turnschuhe anhat. Warum hat der Turnschuhe an? Der Milizionär sagt: Wychodi, raus! Ich kann ein paar Worte Russisch: Guten Tag, dobryj den, danke, spassibo, auf Wiedersehen, do swidanija. Ein paar Worte habe ich noch zu DDR-Zeiten durch die russischen Soldaten mitgekriegt, also, der sagt: Wychodi, raus! Ich bin ausgestiegen, um mit ihm zu reden, aber plötzlich haut der mit dem Gummiknüppel zu. Das ist blitzschnell gegangen, so schnell, wie ich jetzt rede. Der Milizionär schlägt zu. Ich stürze hin, und Bruno, was macht der? Der haut ab! Also jeder Mensch hat Feinde, aber am schlimmsten sind doch die Kollegen.


XXV.


BÜSSING: Einmal Currywurst mit Mayo, extrascharf.

VERKÄUFERIN: Zweihundert.

BÜSSING: Zweihundert? Dann lege ich lieber selbst Hand an.

VERKÄUFERIN: Hier hört man ja Sachen. Eine extrascharfe haben sie gesagt?

BÜSSING: Ja.

VERKÄUFERIN: Wir machen alles möglich.

BÜSSING: Wie findest du die Kleine?

DEUTZ: Etwas zu üppig.

BÜSSING: Du bist ein Banause, Rudi. Körbchengröße C ist etwas ganz besonderes.

DEUTZ: Das meinst du.

BÜSSING: C hat einfach Klasse, Rudi. Das ist wie bei den Parteien.

VERKÄUFERIN: Einmal Currywurst mit Mayo.

BÜSSING: Danke.

DEUTZ: Und zwei Beck’s für meinen Kumpel hier und mich.

VERKÄUFERIN: Kommt sofort.

DEUTZ: Sag mal, Bruno, heißt du jetzt Grapsmann oder Grapsmeier?

BÜSSING: Wer will das wissen?

DEUTZ: Ich.

VERKÄUFERIN: Bitte sehr, zwei Bier.

BÜSSING: Danke.

DEUTZ: Ich habe nämlich deinen Namen vergessen.

BÜSSING: Klebmann. Ich kleb dir gleich eine!

DEUTZ: Also Grapsmüller.

BÜSSING: Du denkst dir Namen aus, Rudi!


XXVI.


STAATSANWÄLTIN: Rudolf Deutz hatte seit Jahren die Wohnung nicht mehr verlassen, weil er glaubte, die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Die rätselhaften Ausfälle der Verkehrsampeln, das Auftauchen von stummen Verkäufern an den Straßenkreuzungen, all das hielt Rudolf Deutz für Vorzeichen des Weltuntergangs, der nicht aufzuhalten war. Er hockte den ganzen Tag in der Küche und bastelte nutzlose Nutzfahrzeuge im Maßstab 1:50. Er trug schwarze Trainingshosen, sah erschreckend bleich aus und rauchte zu viel. Seine Tochter kam alle zwei Tage, brachte frische Lebensmittel und Zigaretten, wusch ihm die Bettwäsche und die Trainingshose, wenn sie zu riechen begannen, aber sie hatte die Fragerei längst aufgegeben, warum er die Wohnung nicht mehr verließ. Vielleicht hätte sie sich mit Malwin unterhalten müssen, um die Wahrheit zu erfahren über Rudolf Deutz, vormals Berufskraftfahrer bei der Spedition „Continental“, Führerscheinklasse zwei und drei, neunundzwanzig Jahre unfallfrei.

ERZÄHLER: Rudolf Deutz mochte den Jungen, sogar sehr gerne, aber das Lächeln, das er ihm schenkte, war stets ein wenig in Wehmut gekleidet. Wie alt mochte Malwin Waldseemüller sein? Siebzehn? Neunzehn? Seine Tochter war dreiundzwanzig. Beide könnten Geschwister sein. Der Gedanke beschäftigte ihn, aber nicht lange, denn das Bier stieß ihn in den Abgrund des Schlafs. Die Welt kam am nächsten Morgen wieder, und auch das Ich von Rudolf Deutz kehrte zurück, aber woher es kam, wusste keiner. Als Ich und Welt sich endlich gefunden hatten, war Rudolf Deutz wach. Er taumelte mit Kopfschmerzen aus dem Bett und stellte fest, dass Malwin verschwunden war. Er setzte sich an den Küchentisch, wo der Fuhrpark einer Straßenbaufirma aufgebaut war. Hinter den Windschutzscheiben der Plastikautos steckten winzige Schilder mit Namen, die schlecht zu lesen waren, weil Rudolf Deutz die Regeln des Setzens, das Ausgleichen und Sperren einer Schrift nicht kannte, aber der Makel fiel nicht groß ins Gewicht, denn die Personen hinter den Namen waren nichts als Lügen. Es gab keinen „Malwin“ und auch keinen „Thaddäus“, der einen Hinterkipper oder einen Straßenhobel im Maßstab 1:50 lenken konnte. Vorsichtig berührte der Lügenbauer Rudolf Deutz mit einer Pinzette das Dach der Straßenwalze, und nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass nichts wackelte, lehnte er sich zufrieden zurück. Die Modellbauzeitschrift hatte nicht zu viel versprochen. Der Spezialklebstoff war wirklich wunderbar.


XXVII.


GAST 1: Ich hab ein Messer, sage ich dir.

GAST 2: Darauf kannst du reiten?

GAST 1: Bis Paris.

GAST 2: Ich bin schon satt.

GAST 1: Der Speck ist Schwerarbeit. Das ist nicht normal, sage ich dir.

GAST 2: Ja?

GAST 1: Und die Zwiebeln sind so scharf.

GAST 2: Ja?

GAST 1: Ich hör auf. Ich kann nicht mehr. Das lasse ich alles stehen.


XXVIII.


ERZÄHLER: Durch die Fenster der Bahnhofsrestaurants konnte Malwin die Lichter der Signale sehen. Wie entzündete Augen schwebten sie durch den Morgendunst. Undeutlich tauchten die Bilder des letzten Tages auf. Es waren Bruchstücke, und er musste sie mühsam zusammenfügen wie bei einem Puzzle. Malwin sah auf die Uhr. Die Sekunden hinterließen dünne Striche auf dem Zifferblatt. Gleich würde der Mechanismus präzise abzulaufen beginnen, den er unbewusst aufgezogen hatte. Malwin bezahlte und stand auf.


XXIX.


BÜSSING: Hast du mal Feuer?

MALWIN: Moment.

BÜSSING: Danke.

ERZÄHLER: Als Malwin die Zeremonie mit der Zigarette sah, wusste er, wer der Mann in der schwarzen Lederjacke war. Er hatte Bruno Büssing nicht wirklich gesucht. Er hatte ihn zufällig gefunden. Malwin wurde leicht schwindlig, und er dachte, das käme von dem Messer, das wie ein kleines Boot zusammengefaltet in seiner Reisetasche lag. Malwin setzte die Sonnenbrille auf, damit ihm die Furcht nicht aus den Augen flog, während er Bruno Büssing folgte.

BETTLER: Hast du mal ein bisschen Kleingeld für mich?

BÜSSING: Such dir doch Arbeit!.

BETTLER: Hast du welche für mich?

BÜSSING: Ne, aber kann dir sagen, wo du fündig wirst.

BETTLER: Wo?

BETTLER: Gelbe Seiten.

STAATSANWÄLTIN: Bruno Büssing hatte die halbe Nacht gespielt und verloren. Es gab Zeiten, da hatte er einfach kein Glück. Es war so.

BÜSSING: Spielen. Verlieren. Von vorne beginnen. Das ist doch logisch, oder?

ERZÄHLER: Malwin überlegte, ob er Bruno Büssing weiter folgen sollte, denn gleich würde Zoës Zug den Bahnhof erreichen und klirrend und kreischend das trübe Licht zu lauter Ausrufezeichen zerhacken.

MALWIN: Mmh. Du schmeckst ja nach Himbeere, Zoë.

ZOE: Ich habe einen neuen Lippenstift.

MALWIN: Dann gib mir noch einen Kuss. Hast du den Typen mit der schwarzen Lederjacke gesehen, Zoë?

ZOE: Wen?

MALWIN: An jedem Fing ein Ringer. An jedem Ringer ein Fing. An jedem Finger, jetzt habe ich es: Er trägt an jedem Finger einen Ring.

ZOE: Bist du betrunken, Malwin?

MALWIN: Nein, nur müde.

ZOE: Hast du geguckt, wann unser Zug geht?

MALWIN: Acht Uhr elf, Gleis 2.

ZOE: Wie spät ist es jetzt?

MALWIN: Kurz vor acht.


XXX.


ERZÄHLER: In der Nacht hatte es geregnet, und auf dem dunklen Asphalt des Bahnhofsvorplatzes blühten Pfauenaugen aus Mineralöl. Ununterbrochen hallten Schläge durch die Morgenluft. Das Dach der Güterhalle wurde neu gedeckt. Es war kalt, und die Handwerker trugen dunkle Arbeitswesten, unter denen das Futter schmutzig hervorstand. Bruno Büssing hatte die Sattelzugmaschine am Ende der Ladestraße geparkt, und als er ins Fahrerhaus kletterte, dröhnte ihm das Hämmern in den Ohren, als sei alles eins, Kälte und Krach ein Ding in seinem Kopf.

STAATSANWÄLTIN: Bruno Büssing sah den geparkten Anhänger weit vor sich. Er bückte sich, um die brennende Zigarette aufzuheben. In dem Augenblick, als er sich aufrichtete, huschte ein Schatten über die Fahrbahn. Bruno Büssing riss das Lenkrad nach rechts und war wie erstarrt, als die Stahlrohre auf dem Anhänger rasend größer und größer wurden, plötzlich ganz groß waren wie die Schnellzüge im Film, die in einem Augenblick die ganze Leinwand füllten. Als die Tür zum Fahrerhaus geöffnet wurde, lag Bruno Büssing über das Lenkrad gebeugt, mit dem Kopf an der Windschutzscheibe. Er atmete stoßweise und hatte die Augen geschlossen. Nun, wo sein Leben fast zu Ende sein schien, kam ihm alles vor wie ein Traum.

BÜSSING: Ist das vorhin ein Hund oder eine Katze gewesen?

STAATSANWÄLTIN: Eine Katze.

BÜSSING: Katzen konnte ich noch nie leiden.

STAATSANWÄLTIN: Ich liebe Katzen.

BÜSSING: Werden Katzen eigentlich wiedergeboren?

STAATSANWÄLTIN: Keine Ahnung.

BÜSSING: Der Erzähler wüsste das.

STAATSANWÄLTIN: Ach, du lieber Gott, der.

BÜSSING: Wieso lieber Gott? Sag doch einfach Bruno zu mir.

STAATSANWÄLTIN: Glaubst du an die Wiedergeburt, Bruno?

BÜSSING: Nichts vergeht! Das ist doch logisch.

STAATSANWÄLTIN: Was ist denn daran logisch?

BÜSSING: Woher kommt der Honig?

STAATSANWÄLTIN: Von den Bienen.

BÜSSING: Und woher kommen die Bienen?

STAATSANWÄLTIN: Aus der Lüneburger Heide.

BÜSSING: Und woher kommt die Lüneburger Heide?


XXXI.


ERZÄHLER: Unter dem roten Ford Mustang auf dem Schrottplatz schauten zwei Füße hervor. Sie steckten in schmutzigen Turnschuhen, die wie die Arbeitshose das verwitterte Braun von Eisen angenommen hatten. Die Füße gehörten Freddy Henschel, der sich seit Stunden abmühte, den Ford Mustang zum Laufen zu bringen. Der Schrottplatz lag vor der Stadt, vor den Toren der Stadt hieß das früher, aber jetzt wusste keiner mehr, wo die Stadt anfing und wo sie aufhörte. Es gab keine Tore mehr, nur noch eine vom Auto beherrschte Zone, die im Norden an die Gleise der alten Industriebahn stieß. Der Dobermann bellte wie verrückt, als der Abschleppwagen auf den Schrottplatz fuhr. Freddy Henschel kroch unter dem Motorblock hervor und wischte sich die ölverschmierten Hände an der Latzhose ab. Der Kranwagen hatte eine Sattelzugmaschine am Haken.

HARRY: Hey, Freddy!

FREDDY: Hey, Harry!

ERZÄHLER: Harry Henschel kletterte auf den Abschleppwagen und betätigte die Winde. Zitternd senkte sich das Fahrerhaus der verunglückten Zugmaschine. Als die Vorderräder fest auf dem Boden standen, machte Freddy Henschel den Abschlepphaken los und kletterte ins Fahrerhaus, in dem es nach Leder, Schweiß und ranzigem Diesel roch. Neugierig betrachtete Freddy Henschel die Blutspuren am Lenkrad und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Er wippte ein paar Mal auf und ab. Die Federn waren ausgeleiert. Freddy Henschel trat auf die Kupplung und drehte den Schlüssel. Nichts. Totalschaden. Er schlang die Arme ums Lenkrad und beobachtete, wie die Winde das Stahlseil aufspulte.


XXXII.


REPORTERIN: Sie haben die Sendung „Witwen im Profil“ eingeschaltet. Mein Name ist Uschi Neumann, und wir sind heute zu Gast bei Maria Waldseemüller. Der Druck der Verhältnisse bewirkt oft sehr viel. Die Tatsache, dass eine Frau plötzlich für die Familie allein verantwortlich ist und darum Kräfte entwickeln muss, die sie vielleicht unter anderen Umständen gar nicht hätte entwickeln können, diese Tatsache erklärt vielleicht, warum Frau Waldseemüller scheinbar so gelassen, so kühl, so unnahbar wirkt ---

MUTTER: Ich habe meinen Mann sehr geliebt.

REPORTERIN: Frau Waldseemüller, wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich wünschen?

MUTTER: Dass mein Sohn Malwin Ihre Sendung hört.

REPORTERIN: Frau Waldseemüller, ich bedanke mich für das Gespräch. Mein Name ist Uschi Neumann, und ich würde mich sehr freuen, wenn Sie Ihr Radio einschalten würden, wenn es wieder heißt: „Witwen im Profil“.


XXXIII.


ERZÄHLER: Das Meer brauste und schleuderte blitzende Klingen aus Licht. Selbst der Sand verwundete das Auge. Der Schrei einer Möwe flog über die Brandung. Eine Welle rollte heran, schob sich weit vor über das Ufer und glitt wieder zurück. Der Strand war ein Flickwerk aus Liegestühlen und Badetüchern. Die Urlauber hatten die Schuhe ausgezogen und im Sand verteilt wie Grenzsteine. Sie saßen nur da und taten nichts; Sonnenstaub waren sie.

GAST 1: Die frische Luft macht munter.

GAST 2: Mich macht sie müde.

GAST 1: Was macht dich nicht müde?

GAST 2: Schlafen.

ERZÄHLER: Auf dem Meer schwebte eine weiße Gestalt lautlos heran, und während die beiden Kurgäste die Segeljacht vor Usedom bestaunten, streifte sich im siebten Stock des Strandhotels das Zimmermädchen Anke Schnack die Gummihandschuhe über. Sie hatte kleine rosarote Hände, die nach billiger Vaseline rochen. Sie war stolz, dass sie helle Haut hatte, und ging der Sonne ängstlich aus dem Weg. Anke Schnack war unverheiratet. Schuld daran war die Familie. Der Mann durfte nicht mit ihr verwandt sein, sonst brachte er die Verhältnisse durcheinander, aber er durfte auch kein Fremder sein, sonst wurde er vielleicht zum Feind der Familie. Es kam auf den richtigen Abstand an. Das war das Problem. Aber nicht nur das. Anke Schnack war eine übertriebene Frau. Etwas bei ihr war zu groß, zu blond, zu ausgeprägt. Sie war schrill und laut, und wenn sie sich mit den anderen Zimmermädchen stritt, war ihre Stimme deutlich herauszuhören.

ANKE: Scheiße!

ERZÄHLER: Anke Schnack schüttelte ihr gefärbtes Haar und blinzelte kurzsichtig in das Zimmer mit der Nummer siebendreiundzwanzig. Durch die halb offene Tür quoll der Gestank von Bier und Urin. Für Anke Schnack begann ihr neunundzwanzigster Geburtstag mit Brechreiz.

ANKE: Scheiße!

ERZÄHLER: Überall lagen Schaumgummischnipsel herum. An der Decke deuteten Flecken von Brombeerlikör auf wunderbare Marienerscheinungen. Dem Kalenderbild fehlte ein Auge, und das Bettgestell lehnte mit gebrochenen Rippen an der Wand. Leere Bierdosen lagen in der Badewanne, und auf dem Spiegel stand in braunen Buchstaben „TSV“.

ANKE: Scheiße!

ERZÄHLER: Fünf Stockwerke tiefer waren die Jalousien heruntergelassen. Die Luft war schwül wie im Inneren einer Glühbirne. Zoë nippte an einer Diätcola. Malwin lag im weißen Gewölk des Bettes und rauchte. Er hatte ein freundliches Lächeln im Gesicht, das nicht mehr herauszukriegen war, seit er auf Usedom war, und Zoë war gerne bei ihm. Malwin berührte ihre Brüste. Die Weiße ihrer Haut war rein wie Polarschnee. Im Alter würde sie faltig und runzlig werden wie die Haut von gekochter Milch.

ZOE: Weißt du, was Glück ist, Malwin?

ERZÄHLER: Malwin schüttelte den Kopf und schloss die Augen. Er versuchte, sich Zoë dreißig Jahre älter vorzustellen. Wahrscheinlich würde sie ihrer Mutter sehr ähnlich sehen. Zoës Mutter war dick und lebhaft. Und sie lachte gerne. Die gealterte Zoë hatte dralle Knie und ein Doppelkinn. Wie eine Dampfwalze rollte ihr runder Leib durchs Zimmer. Ihre Hüften wippten. Ihr Busen wogte. Zoë tanzte mit ihm. Sie waren Mann und Frau. Und Malwin fragte sich, wie sie sich damals gefunden hatten in der Bibliothek – war das Zufall gewesen oder doch Schicksal?

ZOE: Das nächste Mal nehme ich einen sonnendurchlässigen Bikini mit, Malwin. Ich sehe aus wie ein Zebra.

MALWIN: Du bist schön, Zoë.

ZOE: Schmeichler.

MALWIN: Ich schwöre es dir.

ZOE: Aber die hellen Streifen. Sie machen mich noch hässlicher, als ich schon bin.

MALWIN: Die Streifen sehen das anders. Von der Schokolade heben wir uns aber wunderbar ab, sagen sich die Streifen.

ZOE: Scheusal! Weißt du, was Glück ist, Malwin?

MALWIN: Glück ist --- schwer zu sagen, Zoë.

ZOE: Zwei Sandkörner in einer Muschel. Das ist Glück, Malwin.