26. Mai 2024

Jess war ein alter Edelmann / Drunten in Tennessee


Ein ruhiger, prismatischer Fluss – so wirken die Erzählungen von Willa Cather. In der titelgebenden Geschichte verwebt sich ein trauriger Mythos von Prärie, Ureinwohner*innen auf einem Felsen mit ziemlich modern anmutender Jugendstory über Kinder am Fluss, die letztlich sich trotz ihrer Träume nicht von der Stelle rühren – gegen Ende der Geschichte, mit Ende ihres Lebens –, aber mit Nachkommen. Extrem gut beobachtet, dicht geschildert ist Willa Cathers Sprache feinsinnig, das jedoch nicht zum Selbstzweck. Die Stimmung in Der verwunschene Fels nimmt einiges ur-amerikanische Erzählen in Fokus, Setting, Stil vorweg (von Capote bis Stephen King), löst es zugleich in sehr eigene Storyverstrebungen auf.
Cather selbst bewunderte Henry James als Zeitgenossen, der sie allerdings, wie viele andere, tunlichst mied, missachtete, ignorierte. Die Journalistin zog, wie das Nachwort der Übersetzerin Agnes Krup zeigt, bald aus der ländlichen Umgebung Nebraskas in die Stadtwelt der Ostküste, lebte ihr Privatleben unter Verschluss, zog sich immer wieder für das Schreiben und Ausatmen auf eine Frauenkolonie vor der Küste Kanadas zurück, die durchaus als Insel ihren Auftritt hat in vorliegenden Erzählungen. Gerühmt für ihren Stil, von Wallace Stevens oder eben Truman Capote, scheint Cather doch eher selten wirklich gelesen, sodass es zu einem Verdienst der Anderen Bibliothek wird, hier in integrer Aufmachung, ihren Kurzgeschichtenband herauszugeben.
In Schon bald: Aphrodite! gibt es putzige Details wie die bevorstehende Ballonfahrt, Staunen, ein wenig Stimmung wie in Weltausstellung-Szenerien. Der Protagonist mäandert. „Er war völlig vertieft in eine Studie über Paradiesfische im städtischen Aquarium, die durch das grüne Wasser und die Glasscheibe ihres Bassins auf die Besucher starrten.“ Oder auch: „Seine hauptsächliche Beschäftigung aber bestand darin, all jene Ideen wieder zu vergessen, die er einmal für gut gehalten hatte.“
Ein Höhepunkt, neben dem verwunschenen Fels, ist die Geschichte Die alte Mrs Harris, bei der ein Psychogramm des Alterns in zugehöriger Umgebung sensibel nachgezeichnet ist, bis: „Und so verschwand Mrs. Harris“ – vielleicht auch ein wenig autobiografischer Erfahrungsraum. „Während der nächsten Tage war Mrs. Harris düsterer Stimmung, und sie fühlte sich nicht wohl. Mehrere Male packte sie in der Küche das, was sie Duseleien nannte, und Mandy musste ihr auf einen Stuhl helfen und ein bisschen Branntwein bringen.“ Das Vorlesen, Lesen überhaupt spielt eine kommunikative Dauerrolle in der Welt der Willa Cather. „Mrs. Rosen verdrehte die Augen und seufzte. ,Mein Kind, es ist ein Stück Weltliteratur!’
Das sagte Vickie nichts. Niemand hatte ihr beigebracht, Weltliteratur zu würdigen, ein solcher Maßstab existierte in ihrem Kopf nicht. Ein Buch bedeutete ihr nur etwas, wenn es sie fesselte.“
Komisch beinah wirkt die Story Vor dem Frühstück, die Erlebnisse auf jener (oder einer ähnlichen) Rückzugs-Insel Cathers ins Bild setzt. „(Die Anreise von Boston war lang und beschwerlich, mit Zügen, die aus den übrig gebliebenen Waggons bankrotter Eisenbahngesellschaften bestanden, gefolgt von zwei der grässlichsten Dampfer der Welt.)“ Mittendrin taucht dies auf: „Er machte sich bereit, während sie sich, jedenfalls bislang, gut hielt. Nichts ist peinlicher, als jemanden zu retten, der nicht gerettet werden will. Das Wasser war abgelaufen, es herrschte Flaute – sie kannte sich mit den Gezeiten offenbar aus.“
Cather hält sich ansonsten mit Bewertungen zurück, bleibt in der beobachtenden Position, die besonders in Tier- und Landschaftsbeschreibungen aufblüht, durchzogen von gesellschaftlichen Events, Musik, Konventionen. „Als Paul zum Abendessen herunterkam, flutete ihm die Musik des Orchesters grüßend in den Fahrstuhlschacht entgegen.“
Großzügige Prosa aus einer Übergangszeit bietet Willa Cathers Der verwunschene Fels. Das dicke Auftragen ist ihr fremd, womöglich mit ein Grund, sie heute wiederentdecken zu müssen. „Ich verstand. Direkt vor dem Eingang der Konzerthalle lagen für sie der dunkle Tümpel mit dem von Viehspuren überzogenen Lehmufer, das hohe, ungestrichene Haus, nackt wie ein Turm mit seinen verwitterten Brettern, und die buckligen Eschensetzlinge, in denen die Geschirrtücher zum Trocknen hingen und unter denen die mageren, zerrupften Puter vor der Küchentür in den Abfällen pickten.“

Jonis Hartmann

Willa Cather: Der verwunschene Fels, Die Andere Bibliothek 2023