Das Telefon, das Gebirge, die Stille
Das ist das gute Wohnzimmer. Für die besonderen Tage. Die Großmutter sieht es nicht gerne, wenn eines der Kinder sich in einen Sessel setzt. Sie selbst sitzt in einem billigen Modell neben dem Telefon. Das Telefon ist ihr wichtig. So kann man sie anrufen, sie kann anrufen. Klingelt es, greift sie danach. Wie eine Verhungernde nach einem Stück Brot. Sie ruft ihren Namen ins Telefon. Wartet. Hört. Knallt den Hörer auf die Gabel. „Verwählt!“ Sie spuckt das Wort aus. Ins Zimmer hinein. Ins gute Wohnzimmer. Über den Sesseln durchsichtige Überzüge. Damit die Kinder, sind sie da, nichts dreckig machen. „Verwählt“, spuckt sie dem Enkelkind entgegen. Das sitzt im Sessel, in dem es nicht sitzen darf. Es spürt es. Es sitzt illegal. Es sitzt, während die Großmutter das Telefon bewacht. Es läutet an diesem Tag nicht mehr. Die Welt gibt sich ihr nicht hin. Die Welt schweigt sie an. Von ihrem Sessel aus schießt sie mit der Fernbedienung auf den Fernseher. In der ARD die Nachrichten. Da ist sie, die Welt, die sie anschweigt. Laut und deutlich. Sie rümpft die Nase. Gut, dass diese Welt schweigt. Kaputt. Alles am Ende. Schon immer. Das ist das Vorrecht der Alten, zu sagen, dass alles am Ende ist. Der Enkel ist gegangen. Sie atmet erleichtert auf. Wegen des guten Sessels. Einsam sitzt sie im guten Wohnzimmer. Das Telefon neben sich. Klingel schon, denkt sie. Bis spät in die Nacht. Dann schlurft sie ins Schlafzimmer. Dort liegt sie unter einer riesigen Decke. Einem Gebirge von Decke. Eine Decke, die einen verschwinden lässt. Wie gut, denkt sie. Mal nichts mehr sehen. Alles ist am Ende. Sie schließt die Augen, als sie meint, ein Klingeln gehört haben. Das Telefon. Drüben im guten Wohnzimmer. Sie strampelt sich aus dem Bett. Will hinüber ins Wohnzimmer. Hin zum Telefon. Wer weiß, was geschehen ist. Ein Brand. Ein Toter. Mehrere Tote. Ein Haus mit Toten. Sie keucht den kurzen Flur entlang. Hinüber. Sie greift nach dem Telefon. Ruft ihren Namen. Lauscht. Stille. „Hallo!“, ruft sie. Stille. Das macht ihr Angst. Die Stille bleibt. Selbst als sie aufhängt und zurück unter das Gebirge kriecht. Die Stille bleibt, als hätte sie sich nun Einlass verschafft. Als würde sie nicht mehr gehen wollen. Die Stille liegt neben ihr. Sie spürt, dass die Stille Sieger bleiben wird. Sie hofft auf den morgigen Tag. Auf das gute Wohnzimmer. Ein Enkel könnte kommen. Das Telefon wird warten. Sie liegt unter dem Gebirge und spürt die Last. Das Ende. Alles kaputt. Stille.
Guido Rohm