Meine noch nicht untervermietete Kehle

Der auf Avantgarden spezialisierte Verlag Zero Sharp bringt eine zweisprachige Ausgabe der Gedichte von Marcia Nardi heraus, anspruchsvoll schlicht gestaltet. Dabei entspricht die Auswahl dem angedachten Vermächtnis der Autorin, die 1990 verstarb, d.h. ihrem quasi letzten Veröffentlichungswillen, sieben Jahre vor ihrem Tod verschriftlicht. Pikant daran, seit 1956 ist weltweit nichts von ihr veröffentlicht worden, also auch nicht auf Englisch, insofern bringt es diese Veröffentlichung mit sich, die „weltweit erste“ (so schreibt der Umschlag) der bis dato herausgedrängten Autorin zu sein. Da alles durchgehend zweisprachig ist, das Nachwort und Apparat wiederum rückübersetzt worden sind ins Englische, haben die Leser*innen es hier mit einer genuinen Arbeit am Sichtbarmachen Nardis zu tun. Übersetzer Stefan Ripplinger spricht letztlich von einer Art „Totschweigen“ einer dem Obskurantismus mutwillig anheimgegebenen Dichterin. Ob das (damalige) Verdikt von Nardis angeblicher „Selbstbemitleidung“ in ihren Gedichten wie auch Verhalten Aufschluss bringt oder nicht, es herrscht viel Spekulation, ganz sicher aber nicht ein Mangel an Tatsachen, dass Marcia Nardi kein Dichterinnenleben zu führen vergönnt war im klassischen Sinne. Als alleinerziehende Mutter eines Sohnes finanzierte sie sich ihren Lebensunterhalt mit dürftigen Schreibjobs wie Rezensionen oder Auftragsarbeiten, nur um am ständigen Rand der Armutsgrenze in New York entlangzuwischen, mit dementsprechenden Sorgen, die heute mehr denn je exemplarisch für den Umgang mit Künstler*innen stehen können. Sie wurde zwar von damaligen Netzwerken gefördert, am Prominentesten William Carlos Williams, der sie nebenbei um offensichtlich mehrere Formulierungen erleichtert hat zu seiner eigenen Verwendung, jedoch schien sie mit ihrer eigenwilligen Dichtung, wohl noch mehr in den direkten persönlichen Briefen, den herrschenden Strukturen zunehmend unbequem, bis es zu einer Art einhelligem Kontaktabbruch kam. Auf sich allein gestellt, verfasst Nardi sehr unterschiedliche Gedichte, die stilistisch pendeln zwischen einem „frank talking“, das schon Dichterinnen wie Diane Wakoski vorwegzunehmen scheint, vlt. auch spätere Arten vom sogenannten „Bekennen“, jedoch viel häufiger die literarische Moderne mit ihren aufbrechenden, aber noch ablesbaren klassischen Hallräumen aufruft, dabei aber einen eigenen Weg findet, feministische Positionen manifest zu gestalten, Mythen um- und einzudeuten, Standpunkte neu zu denken. „Denkwege sind verstellt / In diesem dunkeln Land.“
„Liebe mach ich denn ich schreib sie“. In einer eleganten wie eigensinnigen Übersetzung von Stefan Ripplinger wird der Weg von Marcia Nardis Stimme anhand ihrer eigenen Auswahl von frühesten bis späteren Gedichten deutlich, „Der Toten morgige Tage sind meine gestrigen“. Ob die Übertragung allerdings die begriffliche Dringlichkeit von Nardis Kommunikation erfasst, ist nicht immer ganz klar, was bei der großen Materialmenge aber nicht verwundert, anspruchsvoll ist Nardi allemal, Reimzwänge („auf Störung angelegte Reimschemata“ schreibt das Nachwort) und Kunstfertigkeit des Originals tun ihr Übriges, die große Schwankbreite von Marcia Nardis Schaffen aufzuzeigen. Das vorherrschende Thema, besonders in den eher „talking poems“, die durchweg ruhiger agieren, ist das Altern. Nardi beobachtet scharf und findet wahrhaftigen Ausdruck für womöglich auch ihr eigenes Dilemma eines lyrischen Ichs in den Straßen, beim Bäcker, angesichts von Pärchen in Autos, dem immer woanders stattfindenden Fortgang. Frühlingsanfang, Himmel, Vor mir selbst entsetzt sind starke Gedichtvertreterinnen geworden, in denen sich kunstisches Drama, die Tragik von Nardis Biografie mit übertragen hat. Sympathisches Vokabular wie die „Zauberknete“ zieht sich wie der erhaltene Kinderblick durchs Buch, trifft auf „Coktailgläser / Axthiebe“.
„Doch sag, welche Zeremonie am Grab dir angenehm,
Und sag, was gesprochen werden soll, welches Gebet
Für eine Seele, die noch lebendig in den Haaresspitzen
Und seltsam aus ihren milden Gaben aufersteht,
Die aus den Akten gestrichen seitdem [...]“
Andererseits schieben sich Komplexe aus heutigen Registern wie „Superreiche“ oder „Riesenbahnhof“ in die Übersetzung hinein, es ergibt sich eine Mischung von Sprachgewohnheiten, die als Klammer wirkt, diese doch viele Jahrzehnte wirkende Dichtung erneut Veränderungen aussetzt, hochkomplexe Syntaxschweife wie in Liebeslied, denen schwer zu begegnen ist, mit etwas altertümelnden, wenngleich rhythmisch sehr präzisen Setzungen versucht zu übertragen. Wahrscheinlich ein Schlüsselgedicht, einmal in beiden Sprachfassungen:
„HOW ABOUT IT, WOMEN’S LIB?
“Let me help you dear,” he said,
As I crossed the icy street,
And I knew that he meant
“Poor thing, you are old”;
And though in my loneliness
I would not have had him withhold
That tender word,
How I longed for the days
When “dear” from a man
Would have meant something else.
FRAUENBEWEGTE, WIE STEHT’S DAMIT?
“Darf ich helfen, meine Liebe”, sagte er,
Als ich die eisglatte Straße überquerte,
Und ich wusste, dass er meinte
“Du Ärmste bist alt”;
Obwohl ich in meiner Einsamkeit
Nicht gewünscht hätte, er unterdrückt
Dies zarte Wort,
Sehnte ich mich doch nach den Tagen,
An denen “Liebe”, aus dem Mund eines Mannes,
Noch etwas anderes gemeint hätte.”
Ein außerordentlich gewichtiger Band einer Stimme, scheint es, erblickt hier endlich eine Öffentlichkeit. Es ist nicht aus.
„Wären die Toten dagewesen,
Hätte es das satte Fleisch
Wieder an ihre Knochen gespielt.“
Jonis Hartmann
Marcia Nardi: Gesammelte Gedichte, Zero Sharp 2023