Hermann
von Thomas Glettler
"Sie schreiben also, äh, über sich selbst", sagt der Alte an seinem Schreibtisch. Hinter ihm an der Wand hängt ein riesiges Schwarzweißfoto von Thomas Mann, rauchend in einem Lehnstuhl, durch Berge von Zeitungen blätternd; er stiert direkt nach dem Betrachter.
"Würde ich nie tun", sagt ein jüngerer Mann am anderen Ende des Schreibtischs. Er kaut Kaugummi.
"Woher, sagen Sie, haben Sie meine Nummer? Sie sind ein Bekannter von Hermann?" sagt der Alte.
"Über sein Alter Ego zu schreiben ist vollkommen legitim", sagt der Kaugummi-Mann. Er klingt etwas beleidigt.
"Hermann war schon lange nicht mehr beim Tennis. Geht’s ihm gut?"
"Über Hermann würde ich auch nie schreiben."
“Was?”
“Ach, nichts. Obwohl: der lange Hermann, das hätte schon was.”
“Klingt … anrüchig.”
“Ja, gut, oder?”
Schweigen. Der jüngere kratzt sich am Kopf. Eine Bahnhofsuhr an der Wand neben dem Thomas Mann schickt ihre Zeiger in die nächste Runde. Es ist still, bis auf das Kaugummi-Geschmatze.
"Also, damit ich das richtig verstehe …" Der Alte kneift sich in die Nasenwurzel. "Sie schreiben über einen Kerl, der –"
„ – nicht ich bin."
"Jaja, Nicht Sie sind und der Schriftsteller ist und –"
" – der eine Schreibblockade hat.”
"Genau. Und Sie schreiben das, was dieser Kerl geschrieben hat, bevor er diese Schreibblockade hatte und –"
" - und über das, was er sonst eben noch so erlebt, im Hotel."
"Ach ja, im Hotel!" – Der Alte blättert in dem Manuskript und schaut drein, als hätte er Sodbrennen – "Im Hotel zum langen Sonnenuntergang –"
" – zur langen Dämmerung."
“Ja, genau. Wohin alternde Stars” – der Alte liest, über die Stelle streichend, die er gesucht hat – “sich zu ihrem geheimen Lebensabend zurückziehen, wenn sie keiner mehr braucht."
Er lässt die Brille aufs Manuskript fallen.
"Genau … W-wobei das natürlich eine Metapher ist, eine Allegorie."
"Ja?"
"Ja." Der Kaugummi-Mann nickt beflissen.
"Worauf?"
"Herr Bruster, ihr Vierzehn-Uhr-Termin ist da." – Plötzlich steht eine Frau im Büro. Sie sieht immer noch viel zu gut aus, denkt jemand und strengt sich an, ihr nicht auf den gemachten Busen zu starren. Der lachsfarbene Blazer, den sie trägt, kann den üppigen Lockungen, die er verhüllen soll, kaum standhalten; die Strumpfhosen, die ihre Beine umschließen, pulsen wie eine Wurstpelle.
“Ja – danke Fräulein, äh …” – der Alte stammelt recht tattrig in den Raum.
“Natürlich, Herr Brustler.” Sie verschwindet wieder. Noch ehe sie die Tür geschlossen hat, verkündet sie einem unsichtbaren Publikum im Vorzimmer: “Der alte Trottel kann jetzt nicht. Sitzung.” – Sitzung, das sagt sie wie ein Kind in der Trotzphase.
Der Alte hat es nicht gehört. Er reibt sich die Nasenwurzel, sieht das Manuskript an. Er wirkt verzweifelt.
“Sagen Sie, und Hermann hat bestimmt gesagt, dass … Sie kennen Hermann auch wirklich gut?”
“Aber ja doch!”, sagt der Kaugummi-Mann und nickt heftig. Langes Haare fliegt fettig um seine Ohren.
“Also, na gut. Ich verstehe nur nicht … Aber wenn Hermann das sagt … Es erscheint mir nur alles sehr … krude.” Der Alte hat etwas Flehentliches.
“Das ist doch gar nichts!” Der Kaugummi-Mann wischt die Bemerkung mit einer Geste weg. “Stellen Sie sich vor: Mit achtzehn habe ich eine Geschichte über einen Bordelltester geschrieben, der hieß Herr Schweiss und war impotent und verliebt sich in eine jüdische Prostituierte, wegen der er Tierschutzaktivist wird und nachts mit ihr Legebatterien sprengt! Alles sehr metaphysisch und allegorisch.”
Der Alte schluckt. “Ja?”
“Ja, absolut. Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Die Ideen fliegen einem nur so zu.” Der Jüngere wedelt mit den Händen.
Der Alte schöpft wohl ein wenig Hoffnung. “W-was hat Hermann dazu gesagt?”
“Hermann? Ach, der fand das toll. Ganz toll.”
“Ja? Ja, wirklich? H-haben Sie das vielleicht noch irgendwo?”
Der Thomas Mann an der Wand scheint einen Blitz in den Augen zu haben.
“Müsste ich nachsehen. Ist lange her.”
“J-ja, ja, sehen Sie nach. Das wäre gut! Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt damals? Mensch, jetzt sind Sie ja schon etwas alt. Die Leute wollen junge Wilde, die für sie jung und wild sind, damit sie’s selber nicht sein müssen, verstehen Sie?”
Der Kaugummi-Mann zieht an seinen Fingern, denkt nach. “Vielleicht war ich eben zu jung, um das zu schreiben, was ich schreiben wollte – und jetzt bin ich wohl zu alt, um das schreiben zu dürfen, was ich endlich zu schreiben imstande bin.”
"Ach”, sagt der Alte, “Ja, so ist das ist mit allem im Leben, ja ja!” Er lächelt väterlich, leckt sich die Lippen und sieht nach der Tür, hinter der seine Sekretärin sitzt.
Er nimmt die Brille vom Manuskript, lässt sich in den Lehnsessel zurücksinken, in dem er zusehends verloren wirkt. Er schaut aus der Wäsche wie ein Uhu; seufzt von ganzem Herzen.
Der Kaugummi-Mann lächelt, runzelt die Stirn, lächelt dann wieder.
Der Thomas Mann von der Wand schaut aus seinem Bilderrahmen wie ein böser Gott.
Der Alte trommelt mit den Fingern auf der Tischplatte, sonst regt er sich gar nicht mehr und starrt.
“Da war der gute Hermann wieder einmal klüger.”
“Ja ja, der gute alte Hermann.”
“Ist schon ein Gauner, dieser Hermann.”
Der Alte klatscht in die Hände. Er hat große Hände und sie klatschen sehr laut. “Gut!” Er sucht die Blätter auf dem Tisch vor sich zusammen, stößt sie ordentlich zu einem Stapel, räuspert sich. “Also, Sie sehen nach diesem alten Skript und d-dann unterhalten wir uns noch mal, ja?”
“Und was ist mit dem da?”, sagt der Kaugummi-Mann und zeigt auf das Manuskript zwischen ihnen.
“Ach, das” – der Alte blinzelt, als sähe er das Manuskript zum ersten Mal – “Na, vielleicht gehen Sie da noch mal drüber.”
Er steht auf. “Ach, b-bitte grüßen Sie mir Hermann unbedingt schön, ja?”
Auch der junge Mann erhebt sich, ergreift die Hand, er sieht nicht gerade glücklich aus.
“Ja, natürlich.”
Auch im Stehen überragen sie den Mann nicht.
Im Hinausgehen sieht der junge Kaugummi-Mann der Vorzimmerdame ein letztes Mal auf die Titten und winkt mit seinem Manuskript. Den Kerl im Wartesessel würdigt er keines Blickes – hoffentlich ist es nicht Hermann.
Thomas Glettler, 1986 in Graz geboren, entdeckte schon früh seine Begeisterung für die Literatur, musste jedoch als Arbeiterkind "zuerst einen ordentlichen Beruf erlernen". Weil "der Bub" einigermaßen zeichnen konnte, wurde er auf die Kunstschule geschickt, wo er Grafiker wurde – später Marketing-Fuzzi und Cartoonist. Das Schreiben hat er nie aufgegeben. Neben Gedichten, Essays und Kurzgeschichten widmet er sich in erster Linie Romanen, die Melancholie und Humor miteinander verbinden.
Kontakt: thomasglettler@gmail.com