7. März 2004

Fremdkörper

 

Sechs neue Geschichten. In der Titelgeschichte stoßen in einem Sanatorium drei Knaben aufeinander. Zwei jüdische Tschechen (oder tschechische Juden?), ein Deutscher. Der kleine Deutsche ist der „Hitler“. Irgendwann merkt er, dass die beiden Tschechisch redenden Jungen ihn damit aufziehen. Als er sich aufregt, ist Schluss. Man versteht sich. Spielt miteinander. Am Ende der Geschichte fahren Panzer auf. Prager Frühling. Trennung der drei. Flucht.

Aber bitte, was soll man von der zweiten Geschichte halten: „Der echte Liebermann“? Diese jüdische Type, die da gezeichnet wird (weder Liebermann noch lieber Mann)? Ein Pasticheur, ein Kopist, Bestätigung schlimmster Vorurteile. Zur Austreibung? Dieses perverse Geheimnisvolle, das bis zum Ende nicht aufgelöst wird. Bezauberung durch was? Porträt eines letzten Menschen, der alles mitgemacht und sich vor nichts mehr zu rechtfertigen hat? Ein Überlebender, der nur noch wie ein Fremdkörper in der Folgenormalität wirkt. Dieses Hereinschauen aus einer anderen Zeit ist beängstigend, verwirrender als jeder Aufklärungsfilm.

In einer anderen Geschichte liegt eine jüdische Familie an einem israelischen Strand. Auch hier ist die Vergangenheit ständig präsent und vertreibt jede Unbeschwertheit. Aber es ist in diesem Fall nicht die deutsche, sondern eine ganz konkrete, die jeden Moment furchtbare Präsenz werden kann in Form eines Terroranschlags. Der Familienvater verlor seine erste Frau bei einem Bombenanschlag. Seitdem sieht er alles doppelt. Am Ende der Geschichte hört man Sirenen…

Die letzte Geschichte schlägt einen Bogen zurück, ein junger Mann begibt sich auf die Spuren seines Vaters, der in Prag Filme gedreht hat und nach dem Prager Frühling seinen Beruf aufgeben musste. Der junge Mann geht leer aus. Aber nur, was einen bestimmten Film angeht. Im Laufe seines Aufenthalts hat er sich etwas besser kennen gelernt.

Sechs neue Geschichten – fast altmodisch erzählt. Als nicht-jüdischer Leser kommt man sich ein bisschen wie ein Voyeur vor. Gedeckt nur durch die Rückenfigur des Autors. Also sehr romantisch.

 

Dieter Wenk

 

Maxim Biller, Bernsteintage, Köln 2004 (Kiepenheuer & Witsch)