BLOSS WEG
Von Wolfgang W. Timmler
Die Tante wollte Abbitte tun, glaube ich. Sie sagte: "Geht raus! Alle! Ich will alleine mit dem Egon sein!" Der Sarg war schon zu. Wir sind alle raus, und die Tante hat geweint. Ich glaube, sie wollte ihn um Verzeihung bitten. Die Kinder mussten auch raus. Zwei Söhne und eine Tochter haben der Onkel und die Tante gehabt. Den Abschiedsbrief hat er auf einen Zettel geschrieben. Das weiß ich noch. Das vergesse ich nie. "Verzeiht, vergebt mir. Ich liebe Euch." Das vergesse ich nie. Der Onkel hat sich beim Fenster aufgehängt. Er kniete auf einem Kissen, und der Zettel lag daneben. Er hat sich im Schlafzimmer aufgehängt. Wenn er in der Frühe zur Arbeit ging, sagte er immer zu den Kindern: "Tschüs, macht's gut." Später erzählte mir dann meine Cousine, an dem Tag habe sich ihr Vater viel mehr Zeit gelassen als sonst. Er habe alle geküsst und umarmt, aber die Kinder haben sich nichts dabei gedacht. Das tut man nicht als Kind. Aber hinterher haben meine Cousine und ich darüber gesprochen.
Der Chauffeur kam immer spätabends zur Tante und ging dann hoch zu ihr zum Kaffee trinken. Das Ganze war schon ein bissel merkwürdig. Vielleicht hat der Chauffeur nicht gut gelebt mit seiner Frau, aber das weiß ich nicht. So gut habe ich die Familie nicht gekannt, aber es ist schon merkwürdig, dass er nach Feierabend bei der Tante einen Kaffee trinken geht. Der Onkel hat sich mit Esperanto beschäftigt, und der älteste Sohn vom Chauffeur hat bei ihm Esperantounterricht gehabt. Das weiß ich noch gut. Wie hieß der älteste Sohn gleich? Er hatte zwei Söhne. Rudolf, glaube ich, hieß der älteste. Oder hieß er Rainer? Ich kann mich nicht mehr besinnen. An seine Frau erinnere ich mich fast gar nicht. Einmal habe ich sie gesehen, als der Chauffeur und sie beim Onkel zum Kaffee waren. Sonst kam der Chauffeur immer alleine. Nur der älteste Sohn kam manchmal mit. Mein Papa hat auch ein bissel Esperanto gemacht, aber nicht viel. Er hat nicht so viel Geduld gehabt wie der Onkel, ja, so verschieden sind Brüder eben. Der Onkel hat große Geduld gehabt, aber leider kein Glück, genauso wie mein Papa.
Die Leichenfrau wohnte im selben Haus wie meine Oma. Meine Oma holte bei ihr den Schlüssel fürs Leichenhaus und ging dann alleine auf den Kirchhof. Meine Mutti hatte keine Zeit, und mein Papa war auf Arbeit. Meine Oma ging alleine zum toten Onkel, zwei oder drei Mal am Tag ging sie zum ihm, denn es war doch ihr Sohn. Einmal kam sie dann zu uns und sagte zu meiner Mutti: "Weißt du was? Da liegen drei gelbe Rosen bei ihm.” Und Gelb bedeutet doch Untreue. Ich weiß nicht, ob meine Oma nun gesponnen hat oder ob das wahr gewesen ist, aber merkwürdig war es schon. "Ach", sagte meine Mutti, "wer soll denn ins Leichenhaus reinkommen?" Das stimmte auch. Nur die Leichenfrau hatte den Schlüssel oder eben die Oma. Wie sollten drei gelbe Rosen dort also hineingekommen sein? Ich kann mich noch gut besinnen, dass meine Oma damals ganz aufgeregt war.
Das war aber auch ein großes Drama mit dem Onkel. Das war furchtbar. Und da war auch was. Das ist doch klar. Da war was zwischen den beiden. Das war nicht bloß Bekanntschaft. Das war viel mehr. Mein jüngster Cousin tat mir am meisten leid. Er war noch ganz klein und konnte gar nicht verstehen, warum sein Papa plötzlich nicht mehr da war. Furchtbar. Wie meine Cousine und ich aber dann zusammen konfirmiert wurden, war alles schon fast vergessen. Meine Cousine ging tanzen, und ich ging tanzen. Meine Cousine war kecker als ich und immer vorne dran. Ich hatte große Angst, aber sie kein bissel. Meine Cousine saß dann auch nicht bei den einfachen Soldaten, nein, immer bei den Offizieren. Ich kann mich noch gut besinnen. Und die Offiziere, wenn die ihre Uniform anhatten, dann meinten sie, sie wären weiß-Gott-wer-was und könnten mit uns Mädels machen, was sie wollten, und das taten manche Offiziere auch wirklich, denn sie hatten ja genug Geld.
Meine Cousine habe ich aus den Augen verloren, als ich nach Dänemark gezogen bin. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört, kein Wort mehr, rein gar nichts. Ich weiß nur, dass sie einmal versucht hat, mich zu besuchen, aber meine Mutti war strikt dagegen. Meine Cousine hatte nämlich einen reichen alten Mann geheiratet. "Nein", sagte meine Mutti, "die sollen nicht zu euch kommen. Was glaubst du, was die für einen Eindruck von euch kriegen werden?" Mein Gott! Ich weiß doch auch, dass wir hier nicht in Luxus leben, aber was wir haben, gehört uns, und wir schulden keinem was, ja. Meine Mutti wollte einfach nicht, dass wir uns sehen. Meine Mutti war manchmal ein richtiges Scheusal, und ich kann bis heute nicht verstehen, wie Papa es so lange mit ihr ausgehalten hat. Das verstehe ich wirklich nicht.
Mein Papa hatte sich ein Pferd gekauft. Das Pferd war toll, aber meine Mutti war ihm böse deswegen. Sie kriegte einen richtigen Anfall, als er mit dem Pferd ankam, und schon nahm das Unglück seinen Lauf. Sie haben sich bloß noch gestritten, immer gestritten. Mein Papa kaufte dann noch einen kleinen Wagen, damit er die Kisten mit Käse, Wurst und so weiter in die Stadt bringen konnte. Mein Papa fuhr mit dem Wagen in die Villenviertel zu den reichen Leuten. Bloß reiche Leute haben sich solche Sachen gekauft. Das waren alles erstklassige Delikatessen. Das Pferd hieß Püppchen. Es war ein Rennpferd, aber es war ausrangiert. Die Besitzer konnten es nicht mehr zum Rennen gebrauchen. Und da hat's mein Papa billig gekauft. Das Pferd war sein ein und alles. Mein Gott! Das vergesse ich nie. Ich bin ein paar Mal mitgefahren. Ich habe hinten gesessen auf dem Wagen. Das Pferd kam immer in Trab auf der Hauptstraße. Da stand ein Schutzmann und regelte den Verkehr. Damals gab's ja noch keine Ampeln. Damals stand der Schutzmann mitten auf der Straße, und wir konnten das Pferd nicht anhalten, wenn es in Trab kam. Es ging uns durch. Meine Güte! Der Schutzmann stand da und hat nur mit dem Kopf geschüttelt. Ich hatte keine Angst, aber meine Mutti hat gesagt: "Du fährst nicht mehr mit!" Ich sagte: "Doch, ich will." So war ich mal. Mir gefiel das sehr, und mein Papa ging dann hoch mit den Kisten und hat die Damen gefragt, ob sie was kaufen wollten. Also, das war schon was Tolles. Das war es wirklich. Wir durften zuhause nichts davon essen. Das war viel zu teuer. Das waren alles Delikatessen. Und ich habe draußen auf dem Wagen gesessen und gewartet. Dann sind wir zur nächsten Villa gefahren und so weiter.
Ich ging damals schon in die Schule, denn ich kann mich noch besinnen, dass ich vor den Nachbarskindern ein bissel prahlen wollte mit dem Pferd. Auf dem Heimweg von der Schule kam ich am Stall vorbei. "Ich gehe rein zu meinem Rennpferd", sagte ich zu den Kindern. "Wollt ihr mit?" Klar wollten sie das. Und ich ging mit ihnen rein. Der Stall war nicht weit weg, wo wir gewohnt haben. Ich wollte ein bissel vor ihnen prahlen, aber das Geschäft lief nicht gut. Es ging überhaupt nicht gut. Mein Papa hat wohl bloß Schulden davon gehabt. Das Pferd musste ja gutes Heu haben. Der Stall hat auch etwas gekostet. Ich glaube, das war's, warum er aufgehört hat. Es war alles zu teuer. Vielleicht hat er auch zu viel eingekauft. Die Delikatessen standen im Keller bei uns in Kisten. Der Käse musste gewendet werden, und dann sagte mein Papa zur Mutti: "Nun passt du mal auf und gehst runter und wendest das." Meine Mutti sagte: "Ja, ja." Aber gemacht hat sie nichts, und dann ist der Käse schimmelig geworden auf der einen Seite. Dann konnte mein Papa ihn nicht mehr verkaufen. Meine Mutti hat nicht zusammengearbeitet mit meinem Papa, aber warum sie ihm keine Hilfe sein wollte, kann ich mir denken.
Meine Mutti hatte keinen Freund, keinen Geliebten, aber mein Papa hat Freundinnen gehabt. Das weiß ich ganz genau. Erst hatte er die, dann die. Dann hat er wieder geheiratet und ist wieder geschieden worden. Zuletzt sank mein Papa immer tiefer und tiefer. Er trank auch zuletzt, was er sonst nie getan hatte. Zuletzt sank er ganz tief, und das hat mir sehr weh getan, aber ich habe mich nicht eingemischt. Ich war ja dann auch weg von zuhause. Ich kam ganz selten heim, ab und zu mal am Sonntag. Dann habe ich meinen Mann kennengelernt. Dann bin ich weg mit ihm. Wir sind ganz weg von da, und alles war aus. Ich habe gar nichts mehr mitgekriegt von da. Ich kann mich nur noch besinnen, als wir geheiratet haben, da war mein Bruder, ja, wie alt war der damals? Er ging damals schon zur Schule, und ich habe an meinem einundzwanzigsten Geburtstag geheiratet. Dann muss er sieben Jahre alt gewesen sein, ja, und das sind Augenblicke, die vergisst man nie im Leben.
Mein Papa war nicht böse auf meinen Mann, nein, aber es hat ihm nicht gepasst. Mein Papa war in der Partei. Er ging zu den Versammlungen, und die Kameraden haben ihn dort auch gehänselt. "Na, deine Tochter hat einen Dänen!" In so einem kleinen Klatschdorf war das schlimm, aber ich will nicht sagen, dass er auf uns beide richtig verhasst gewesen wäre, nein, er war nur so ein bissel zornig auf uns beide. Also, das passte ihm nicht, dass ich einen Ausländer zum Mann hatte. Na, und dann wurde mein Papa eingezogen, aber nur zur Ausbildung oder wie das damals hieß. Er kam also nicht an die Front. Und das vergesse ich nie. Mein Bruder und ich schliefen damals im selben Zimmer. Mein Bett stand in einer Ecke und das Bett von meinem Bruder in der anderen. Mein Papa kam rein zu uns, denn er musste zeitig weg. Zu mir sagte er: "Auf Wiedersehen. Macht's gut." Fertig. Er hat meine Hand genommen. Fertig. Kalt und korrekt. Und dann ging er zu meinem Bruder, hat sich hingekniet und geweint. Er hat meinen Bruder geküsst und gedrückt. Ich war nicht eifersüchtig, aber das tat mir ein bissel weh. Ich bin doch auch seine Tochter. Na, dachte ich, lass ihn. Als er an der Tür war, sagte ich zu ihm: "Papa, willst du nicht ein Bild von uns mitnehmen?" Er sagte: "Nein, will ich nicht". Ich wusste nämlich, dass er in seiner Brieftasche ein Bild von meinem Bruder hatte, und ich dachte, vielleicht will er auch ein Hochzeitsbild von uns haben. Das hat mir sehr weh getan, ja. Und wie mein Mann abends von der Arbeit heimkam, habe ich es ihm erzählt. "Tja", sagte er, "da ist nichts zu machen. Ich kann ihn doch nicht zwingen." Und mein Papa fuhr zur Ausbildung und kam öfters heim, ich weiß nicht, alle vierzehn Tage, glaube ich, übers Wochenende, aber wenn er heimkam, hörte ich immer bloß: "Ach, mein Junge, wie geht es dir? Ist die Mutti auch gut zu dir gewesen?" Ich war kalte Luft für ihn. Ich war gar nicht da. So war das. Und dann fuhren wir weg, aber ehe wir wegfuhren, sagte ich zum Papa: "Wir fahren nach Dänemark." Da wollte er dann doch ein Bild von uns haben, und er hat auch eines gekriegt.
Also, mein Papa hat große Unterschiede gemacht. Er hat sich immer einen Jungen gewünscht, und als ich geboren wurde, war er sehr enttäuscht. Ich war ein Mädchen und sollte doch ein Junge sein. Als mein Bruder geboren war, das vergesse ich nie, saß mein Papa zwei Tage, Tag und Nacht, an der Wiege. Er ging nicht auf Arbeit und saß nur an der Wiege. Der Sohn war sein ein und alles. Mein Bruder hat manchmal ein bissel Dresche gekriegt von der Mutti, aber nicht so viel wie ich. Ihn hat sie nicht so verschlagen wie mich, obwohl mein Bruder mehr Mist gebaut hat als ich. Er war frech, aber auch süß. Ich war stolz auf meinen kleinen Bruder, aber der hat viel Mist gebaut. Er durfte alles. Wenn ich in die Stadt musste, habe ich immer die Handtasche und den Hut im Flur abgelegt und bin noch mal kurz auf die Toilette, und wenn ich dann zurückkam, waren Handtasche und Hut meistens nicht mehr an ihrem Platz.
"Warst du das?"
"Was?"
"Nun sag' schon, wo hast du sie wieder versteckt? Die Straßenbahn wartet nicht."
Eigentlich sollte er ein paar an die Backen haben, aber das habe ich nie gemacht. Mein Bruder war aber ein richtiger Teufelsbraten. Meine Mutti hat nichts gesagt. Sie hat nicht geschimpft. Mein Bruder durfte alles machen. Später haben wir ihn jedes Jahr aufgenommen in Dänemark, zu Ostern, in den Ferien war er immer bei uns. Mein Mann hat kein Wort gesagt. Er hat ihn immer Willkommen geheißen wie einen Sohn. Da gab's nichts.
Mein Papa hat uns nie in Dänemark besucht. Er hat uns nicht geschrieben, nein, nicht mal nach uns gefragt. Ich war für ihn verloren. Ich hatte einen Dänen geheiratet, und das war, na ja, eigentlich keine große Schande, aber seine Schwester, die hat ihn dann doch richtig aufgehetzt. Wenn ich der Tante auf der Straße begegnet bin, dann wechselte die schnurstracks auf die andere Seite und hat mich nicht gegrüßt. Ich meine, mein Mann war ein feiner Kerl, fleißig und ehrlich. Er war genauso gut wie ein Deutscher. Mein Papa musste ja in die Partei, sonst hätte er keine Arbeit gehabt. Er musste bestimmt. Die Frauen mussten ja auch in die Frauenschaft, aber meine Mutti wollte nicht. Sie wollte einfach nicht. Ich musste auch ein Jahr Arbeitsdienst machen. Das musste ich. Die Jungens mussten auch zum Arbeitsdienst. Mensch, wurden wir damals ausgenutzt. Wir durften kein Wort sagen. Damals wurden solche Sachen gemacht mit uns.
Ich war Haushaltshilfe bei einem Oberlehrer. Er wohnte mit seiner Familie in einer großen Villa mit Park. Ich musste in der Küche schuften. Seine Frau war unglaublich geizig. Ich musste abwaschen, aber wenn ich das Geschirr abgewaschen hatte, durfte ich das Wasser nicht wegschütten, nein, in dem Wasser wurden dann Kartoffeln gewaschen und geschält, und wenn ich mit den Kartoffeln fertig war, dann wurden in dem Wasser zuletzt die Heringe geputzt. Zum Abwasch benutzte man damals kein Spülmittel. So was gab's damals noch nicht. Nun hatte ich aber das Abwaschwasser weggeschüttet. Die Lehrerfrau kam dadurch ganz aus dem Konzept. “Nein, so etwas kannst du doch nicht machen, Liselotte! Das geht gar nicht!” Eine riesengroße Villa bewohnte die Familie damals. Die Tochter ging aufs Gymnasium und war drei Jahre älter als ich. Wir verstanden uns ganz prima, aber ich durfte nicht mit ihnen im Speisezimmer essen. Ich musste alleine in der rußigen Küche sitzen und essen. Die Familie hat mich richtig ausgenutzt. Und was habe ich bekommen? Eine Mark die Woche und freies Essen und Schlafen. Ein Jahr war ich dort, und ich war froh, als das eine Jahr um war. Ich habe meinem Gott gedankt, aber das Jahr musste ich machen. Ich konnte nicht Nein sagen. Die Nazis hätten mich, ich weiß nicht, was die mit mir gemacht hätten. Vielleicht hätten sie mich ins Lager gesteckt. Das war streng damals. Wir durften kein Wort sagen. Mein Gott! Wie haben mir die Nazis das Leben sauer gemacht, als ich meinen Mann kennengelernt habe, aber die Liebe überwindet alles. Nein, bloß weg, bloß weg nach Dänemark, habe ich damals gedacht!